Jüdische Alltagsgeschichten des 20. Jahrhunderts

Ein Vorwort von Edward Serotta

Es gibt nicht mehr viele von ihnen, aber vor weniger als einem Jahrhundert – bis 1938 – lebten in Wien fast 200.000 Juden. Sie arbeiteten als Ärzte, Anwälte, Polizisten, Lehrer, sie führten Geschäfte und unterrichten an Universitäten – um nur einige Berufe zu nennen. Für diese große jüdische Gemeinde gab es etliche Synagogen, knapp ein Dutzend jüdische Schulen, rivalisierende jüdische Jugendvereine und Sportklubs, jüdische Theater und Verlagshäuser mit Zeitungen in Jiddisch, Deutsch und Ladino, und mehr koschere Fleischhauer und Bäcker, als man zählen konnte.

Heute kann man sie zählen.

Jene Juden, denen die Flucht nicht gelang (65.000), wurden de-portiert und ermordet während ihre ehemaligen Wiener Nachbarn das Hab und Gut übernahmen, welches die Wiener Juden zurück-lassen oder zu einem Bruchteil ihres Wertes verkaufen mussten.
Zu sagen, dass die Wiener Juden nach dem Krieg in Wien kaum willkommen geheißen wurden, ist eine Untertreibung, und es hat sehr lange gedauert, bis die österreichische Gesellschaft begann, sich mit den Erniedrigungen und Gräueltaten auseinanderzuset-zen, denen ihre jüdischen Nachbarn nach 1938 ausgesetzt gew-esen waren.

Aber es gab in den ersten Jahren nach dem Krieg jene Österreicher, die begannen, die Enteignungen zu katalogisieren und festzustellen, was von wem gestohlen wurde. Später begannen Historiker damit, österreichisch-jüdische Überlebende zu finden und sie zu den schrecklichen Geschehnissen zu interviewen, die sie erlebt hatten – üblicherweise auf Video, um ihre Erinnerungen für die Nachwelt zu bewahren.

Dank dieser Initiativen sind heute solche Zeitzeugenberichte zum Holocaust für die Öffentlichkeit zugänglich. In 100 Jahren wird es Bibliothekaren, Schülern, Studenten und Akademikern möglich sein, zu erfahren, wie die österreichischen Juden aus dem Land vertrieben und in den Tod deportiert wurden.

Aber wie können in 100 Jahren (oder sogar heute) Interessierte die persönlichen Geschichten nachlesen, wie Österreichs Juden gelebt haben – vor, während und nach dem Holocaust? In Anbetracht des enormen Ausmaßes des Verbrechens und des darauf liegenden Fokus, diese Geschichten aufzunehmen, wurde sich wirklich wenig auf die Alltagsgeschichten der Wiener Juden konzentriert. Diese Lücke wollte Centropa füllen.

Centropa wurde im Jahr 2000 in Budapest von zwei jungen jüdischen Historikerinnen, Eszter Andor und Dora Sardi, sowie von mir ins Leben gerufen. Ich hatte seit 1985 als Journalist das jüdische Gemeindeleben in Mittel- und Osteuropa fotografisch sowie in Artikeln und Büchern dokumentiert.

Eszter und Dora waren gerade Mütter geworden. Sie hatten auch kurz zuvor die Video-Interviews ihrer Großväter gesehen, in denen sie davon berichteten, wie sie den Holocaust überlebten. Beide Frauen waren von demselben Gefühl beschlichen: ist dieses Interview das, was ich meinem Kind zeigen möchte, wenn es größer ist? Ja, sie fanden Video-Interviews über Zwangsarbeitsmärsche und Konzentrationslager wichtig, aber Doras Großvater, Filip Sardi, war jeden Tag seines Lebens – seit 1928 – geschwommen (und tat dies bis 2008).

Ich fragte Dora, “Hat Dein Großvater Fotos?” “Etliche!”, sagte sie. “Erzählt er Geschichten zu den Fotos?” “Er hört nie damit auf!”, erzählte Dora lachend.

Und so war Centropa geboren. Wir wollten die altmodische Kunst des story-telling mit Familienschnappschüssen vereinen und dann beides in einer Online-Datenbank der jüdischen Erinnerungen bereitzustellen.

Zwischen 2000 und 2010 arbeiten 140 Teilzeitangestellte in 15 Ländern als Interviewer, Editoren, Scanner, Übersetzer, Faktenchecker und Koordinatoren. In diesen Jahren besuchten wir 1.263 jüdische Zeitzeugen, wir saßen mit ihnen auf ihren Sofas und baten sie, uns zu insgesamt mehr als 22.000 Fotos und Dokumenten die Hintergrundgeschichte zu erzählen.

Das Aufnahmegerät surrte, die Geschichten sprudelten heraus – manchmal mit Klatsch und Plauderei vermischt – und in 1.263 Wohnungen und Häusern wurde ein kleiner Teil der jüdischen Welt Mitteleuropas bewahrt. Später wurden diese Geschichten transkribiert, übersetzt, editiert und auf unsere Website gestellt.

Der überwiegende Teil unserer Wiener Interviews wurde von Tanja Eckstein durchgeführt, und in diesem Buch befinden sich 10 ausgewählte Lebensgeschichten.

Von diesen 10 wurde nur Irene Bartz außerhalb von Wien geboren (sie kam in Krakau auf die Welt). Die anderen: fünf Männer und vier Frauen malen für uns ein Bild, wie sie in Wien der Zwischenkriegszeit aufwuchsen. Allen gelang die Flucht vor dem Schicksal, welches die Nationalsozialisten (und viel zu viele von ihren willigen Helfern) für sie vorgesehen hatten.

Sie überlebten in Zentralasien, auf Mauritius, in Palästina, in England, versteckt in einer Wiener Werkstatt oder in Konzentrationslagern. Doch jede Person von ihnen verlor jemanden, der ihnen nahestand. Großeltern, Eltern, Geschwister wurden ermordet. Ihre Abwesenheit verfolgt all jene, die wir interviewt haben – bis heute.

Doch diese Personen gehörten zu jenen Juden, die nach dem Krieg entschieden, in Wien zu leben. Sie halfen, jüdisches Leben in Wien wiederaufzubauen, so dass auch heute Synagogen, Zeitungen und Jugendorganisationen existieren. Es gibt auch einen jüdischen Schwimmverein und einen Basketballverein, in dem sich junge, schlaksige Spieler (und manche, die nicht mehr so jung und schlaksig sind) über das Feld schmeißen, während Familienmitglieder und Freunde sie von den Rängen in Russisch, Französisch, Hebräisch und Wienerisch anzufeuern.

Es gibt jüdisches Leben in Wien. Es ist nicht, was es einst war. Das wird es nie wieder sein. Umso wichtiger sind die Erinnerungen, die diese zehn Juden und Jüdinnen hier mit uns teilen – über das Aufwachsen in Wien, das Überleben der Schreckenszeit und über den Aufbau eines neuen Lebens nach dem Krieg. Für alle von uns.