Irene
Bartz

Man kann sich nicht vorstellen,
was ich für Sehnsucht nach Wien hatte!

Irene Bartz

Hochzeitsfoto Regina und Roman Abraham Geduldig (Krakau, 1921)

Meine Familien mütterlicher – und väterlicherseits kamen aus dem heutigen Polen. Meine Eltern hatten in Krakau eine Wohnung, aber ich weiß nicht, ob sie dort je zusammengelebt haben oder gleich nach ihrer Hochzeit nach Wien gekommen sind. In meiner Erinnerung haben sie immer in Wien gelebt. Mein Vater war Goldarbeiter und meine Onkel besaßen in Wien Juweliergeschäfte. Mein Papa besaß außerdem zwei Saisongeschäfte in Bad Gastein. Meine Mutti hatte einen Bruder und eine Schwester. Die Schwester studierte an der Universität in Krakau und half der Großmutter in ihrem Hutgeschäft und der Werkstätte, in der sie auch Kleider nähten.

Unsere Familie war religiös, sie haben die jüdischen Feiertage begangen, sie haben auf koschere Lebensmittel geachtet und Milchiges von Fleischigem getrennt.

Ich bin 1923 in Krakau geboren und wohnte die ersten Jahre bei meinen Großeltern in Polen. Mein Großvater war Uhrmacher. Er war orthodox und trotzdem modern. Das war eine große Liebe zwischen uns, er hat alles für mich getan. Meine Eltern kamen mich aus Wien regelmäßig besuchen, oder ich besuchte meine Eltern. Und jedes Jahr war ich im Sommer mit ihnen in Bad Gastein.

Während der dritten Klasse bin ich zu meinen Eltern nach Wien gezogen. In Wien ging ich in der Glasergasse ein Jahr in die Volksschule, danach ging ich in der Grünentorgasse aufs Gymnasium. Als ich zehn war, wurde meine Schwester Vera geboren. Ich wurde vor Eifersucht krank, und meine Eltern schickten mich zu den Großeltern nach Krakau. Als ich nach Wien zurückkehrte, hatte ich mich mit der Existenz meiner Schwester abgefunden. Ich hatte viele Freundinnen, christliche und jüdische, lief Schlittschuh im Eislaufverein und tanzte im Kinderopernballett.

Meine Großmutter wurde im März 1938 sehr krank, die Mutti und ich fuhren nach Polen, sie noch einmal zu sehen. In dieser Zeit marschierten die Deutschen in Wien ein, und wir blieben in Krakau, weil Wien für uns Juden zu gefährlich geworden war. Mein Papa schickte meine fünfjährige Schwester mit dem Zug zu uns nach Krakau. Wir sahen ihn nie wieder.

Die fünfjährige Irene (Krakau, 1928)

Irene mit ihrer Schwester Vera (Waldenburg, 1947)

Im September 1939, nach dem Überfall der Deutschen auf Polen, wurde die Mutti von den Polen als feindliche Ausländerin interniert. Da Österreich nun zu Deutschland gehörte, waren wir Deutsche. Nach drei Tagen wurde meine Mutti freigelassen. Eine Woche später mussten wir ein paar Sachen zusammenpacken und wurden mit dem Zug an die russisch-polnische Grenze gebracht. Unser Zug wurde bombardiert, und wir mussten immer aus- und wieder einsteigen. Ab der Grenze war der Krieg für uns erst einmal beendet, denn die Deutschen und die Russen hatten sich Polen geteilt, und wir befanden uns auf der Seite der Russen. Dann schafften wir es mit Hilfe einer jüdischen Hilfsorganisation nach Lemberg. Aber am 30. Juni 1941 wurde Lemberg von den Deutschen besetzt. Die Russen standen nachts vor unserer Tür und man hat uns in Viehwaggons in ein Internierungslager in den Ural gebracht.

Die erste Zeit habe ich am Bau der Eisenbahnlinie mitgearbeitet. Dann kam der Winter, bei bis zu minus 38 Grad haben wir gearbeitet. In der Früh bekamen wir Fackeln, denn es gab Wölfe. So sind wir mit Hacke und Säge gegangen, um die Bäume abzusägen. Die Deutschen kamen näher, und alle Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich wurden in ein Lager nach Sibirien gebracht. Wir haben Wolle gesponnen, und mit Stricknadeln haben die Frauen Socken und Handschuhe für Soldaten gestrickt. Im Juli 1942 hat man uns in Viehwaggons nach Kasachstan gebracht. Karaganda in Kasachstan liegt 500 Meter über dem Meeresspiegel – ein mörderisches Klima. Bevor wir kamen, war das Lager ein Strafgefangenenlager. Es war umgeben von Stacheldraht. Meine Schwester hat nicht gearbeitet, sie war zu jung, und ich habe für meine Mutti mitgearbeitet. Dann ist die Mutti krank geworden und starb 1943 in Karaganda.

Mein Mann war polnischer Offizier, ein Überlebender von Katyn, er war von Beruf Chemiker, und wir heirateten in Karaganda. Mein Sohn Edek wurde im Herbst 1946 geboren, meine Schwester Vera war damals 13 Jahre alt. Nachdem wir Kasachstan verlassen durften, wieder in Viehwaggons, fuhren wir nach Krakau. Dann habe ich erfahren, dass mein Papa, Großvater, und Tante Amalie im KZ Auschwitz ermordet worden waren.

Ich arbeitete als Kindergärtnerin in Waldenburg, einem polnischen Städtchen. Mein Mann besuchte uns, aber er war Professor in Posen an der Universität. Ich blieb zehn Jahre in Polen. Bevor ich 1957 Polen verließ, sagte Edeks Lehrerin zu ihm, er soll nach Israel, wenn seine Mutter Jüdin ist. Damals begann eine antisemitische Welle in Polen. Einmal hat sich Edek mit einem Buben geschlagen, weil der ihm nachgerufen hatte: „Du Jud“. Ich habe mir gedacht: Jetzt ist es Zeit zu gehen! Da habe ich meinen Mann angerufen, weil er mir die Erlaubnis geben musste, dass ich das Kind mitnehmen darf. Ich habe ihn gefragt, ob er nach Wien gehen will. Aber er wollte nicht – er hatte seine Familie in Posen und die Universität. Er hat geglaubt, ich komme zurück.

Wien war nicht leicht für uns, denn wir waren sehr arm. Wir hatten oft nur Marmeladebrote zu essen, trotzdem waren wir glücklich, hier zu sein. Man kann sich nicht vorstellen, was ich für Sehnsucht nach Wien hatte. Als ich als Kind in Krakau war, habe ich nicht beurteilen können, dass mir Wien fehlt. Auch nicht in Russland, aber als ich nach dem Krieg in Polen gelebt habe, hatte ich so schreckliche Sehnsucht nach Wien. Ich hätte nie geglaubt, dass man so ein Gefühl haben kann, ein Landesgefühl, ein Zugehörigkeitsgefühl! Ich liebe das Europäische, ich liebe Österreich, und ich liebe Wien.