DIE HOCHZEITSREISE GING ZUM SEMMERING
INS HOTEL „PANHANS“
Kitty Schrott
Meine Vorfahren väterlicherseits kamen aus dem heutigen Tschechien gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Laa an der Thaya in Niederösterreich, nahe der tschechischen Grenze. Meine Großeltern hatten zwei Söhne, Karl, meinen Vater, der 1902 und Ernst, der 1904 in Laa geboren wurden. Der Großvater Sigmund war in Laa Frucht – und Produktenhändler und Pferdehändler und arbeitete mit seinen Söhnen zusammen.
Die Familie meiner Mutter kam ursprünglich aus Ungarn. Meine Mutter Etel wurde 1905 in Bad Vöslau geboren, obwohl ihre Eltern in Wien lebten und in der Hietzinger Hauptstraße ein Lebensmittelgeschäft besaßen. Der Bruder meiner Mutter, mein Onkel Alexander, kannte jemanden, der meinen Vater kannte. Dadurch lernten meine Eltern sich kennen. Da meine Mutter keinen Vater mehr hatte, führte ein Onkel die „Verhandlungen“, unter anderem auch um die Mitgift. Am 11. Februar 1934, dem Tag des Februaraufstands, haben meine Eltern im Hietzinger Tempel in der Eitelbergergasse geheiratet. Die Hochzeitsreise ging zum Semmering ins Hotel „Panhans“.
Ich wurde am 23. Dezember 1934 geboren und bekam den Namen Kitty, weil mein Vater Tänzerinnen liebte und einmal eine Freundin hatte, die Kitty hieß und Tänzerin war. Die ersten vier Jahre meines Lebens lebten wir in Laa. Sicher war es für meine Mutter nicht so leicht, sich dem Regime ihrer Schwiegermutter anzupassen. Die finanzielle Lage meiner Eltern damals war gut, denn sie hatten ein Auto, das war damals nicht selbstverständlich. Wir besaßen ein Wohnhaus mit fließendem Wasser und einem Badezimmer, Stallungen und Felder. Der Badeofen wurde noch mit Holz geheizt, aber so ein Badezimmer war etwas Besonderes.
Die Frauen kümmerten sich um mich und führten den Haushalt, die Männer arbeiteten in ihrem Beruf.
Im Jahre 1938, nachdem die Deutschen in Österreich einmarschiert waren, mussten wir aus Laa nach Wien ziehen, denn die Juden aus den Bundesländern wurden in Wien versammelt. Zuerst wohnten wir, meine Großeltern väterlicherseits, meine Großmutter mütterlicherseits, mein Onkel Ernst und mein Onkel Alexander im 2. Bezirk in der Praterstraße, ganz in der Nähe des Durchgangs zur Czerningasse. Die Wohnung war groß und komfortabel. Da sie zu teuer war, zogen wir dann alle in eine kleinere, billigere Wohnung in der Czerningasse.
Wenn ich mit meinem Vater oder Großvater unterwegs war, durfte ich bei Ansammlungen nie stehen bleiben. Das war zu gefährlich. Man durfte als Jude nicht mehr in Parkanlagen, auch nicht in den Prater. Meine Cousine Liese war sehr hübsch, ungefähr 20 Jahre alt und sah überhaupt nicht jüdisch aus. Liese ging trotz des Verbots für Juden mit mir in den Prater Ringelspiel fahren. Ich wusste natürlich nicht, dass wir etwas Verbotenes tun. Alle waren glücklich, als wir wieder gesund zurück waren.
Mit meinem Vater waren meine Cousine Inge und ich auch im Prater, niemand hat uns erkannt. Mein Großvater ging einmal mit mir auf der Hauptallee im Prater, da wurden wir aber verjagt, daran erinnere ich mich, ich war fünf Jahre alt. Ich habe mit einer gewissen Angst gelebt, aber ich verstand natürlich nicht, was da los war.
Meine Eltern und Onkel versuchten, Einreisezertifikate in andere Länder zu bekommen. Aber weil wir zusammen bleiben wollten und acht Personen waren, gelang es nicht. Am leichtesten hätten mein Onkel Alexander und Onkel Ernst ein Permit nach England bekommen, sie waren noch Junggesellen. Es hätte vielleicht auch für meine Eltern und mich eine Möglichkeit gegeben, aber für die Großeltern nicht. Die alten Menschen waren ein großes Problem bei der Flucht, denn kein Land wollte sie haben. Ich glaube, ab fünfzig galt man als alt. Einige unserer Verwandten ließen ihre Eltern in Wien, die dann in den KZs umkamen. Letztendlich verließen wir Wien gemeinsam illegal auf einem Schiff die Donau abwärts bis ins Schwarze Meer. Mit uns acht Personen waren außerdem meine Tante Erna Hauser und ihre Tochter Inge und mein Cousin Richard Eisinger und seine Mutter auf dem Schiff.
Im rumänischen Donauhafen Tulcea wurden wir auf die „Atlantik“ in Richtung Palästina umgeschifft. Die „Atlantik“, die höchstens 150 Passagiere hätte aufnehmen können, fuhr mit 1.800 Menschen los. Unter dem Deck hatten wir eine selbstgezimmerte Koje, da waren wir alle acht untergebracht. Ich war sehr viel krank, und meine Mutter brachte mich zum Schiffsarzt. Alle Erwachsenen kümmerten sich um mich, ich war ja das einzige Kind der Familie.
Im Herbst 1940 kamen mehrere Schiffe in Haifa an, unter anderem die „Patria“. Man sagte, dass die Passagiere der „Atlantik“, die nun ein verwahrlostes Wrack war, auf die „Patria“ gehen sollten, um sich dort zu waschen. Meine Mutter aber sagte: „Wir waren bisher beisammen, und wir bleiben beisammen!“ Und sie ist mit mir nicht hinüber auf die „Patria“ gefahren. Aber Erna und ihre Tochter Inge fuhren hinüber. Sie schafften es, sich von der sinkenden „Patria“ zu retten, die von der „Haganah“ durch zu viel Sprengstoff gesunken ist, obwohl sie nur verhindern wollten, dass das Schiff nach Mauritius, einer englischen Kolonie, mit den Geflüchteten geschickt wird. 200 Leute ertranken, mein Cousin Richard Eisinger, mit dem ich in Wien in unserer Wohnung gespielt hatte und seine Mutter waren darunter. Erna und Inge durften dadurch, dass sie auf der „Patria“ waren und beinahe ums Leben gekommen wären, in Palästina bleiben, während meine Familie nach zehn Tagen im Internierungslager in Atlith, nahe Haifa, aufs Schiff nach Mauritius musste.
Unser Schiff von Haifa nach Mauritius hieß „Neuseeland“. Ich wurde auf dem Schiff sechs Jahre alt. Ich war krank, lag in der Kabine und hatte starkes Nasenbluten.
Die Frauen und Kinder waren auf Mauritius in Wellblechbaracken untergebracht, in denen 25 bis 30 Betten nebeneinander standen, über die Moskitonetze gespannt waren. Die Männer waren in Steinhäusern untergebracht, dem ehemals von Napoleon errichteten Gefangenenlager.
Für mich war das Leben im Lager lustig. Ich war ein Einzelkind, aber diese viereinhalb Jahre war ich nie allein. Im Lager gab es eine Schule. Sogar Klavierunterricht hatte ich auf Mauritius. Vom Lageressen wurde man nicht richtig satt, und so führte meine Familie ein „Kaffeehaus“ in einer Wellblechbaracke, in der Tische, Stühle und eine Tischtennisplatte standen.
Wir Kinder wussten, dass Krieg ist, und wir hatten immer ein wenig Angst. Trotzdem war Mauritius ein Sanatorium gegenüber einem Konzentrationslager. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich durch ältere Leute und durch mein Erwachsenwerden begriff, was das alles bedeutete, war mir die Situation, in der sich die Leute auf Mauritius befanden, überhaupt nicht bewusst. Mein Großvater starb am 17. März 1941 auf Mauritius. Unser Ziel blieb Palästina! 1945 wurden die Lager geräumt, und die Engländer ließen uns nach Palästina einreisen.
Wir wollten in die Nähe von Tel Aviv, weil eine der vielen Cousinen meines Vaters in Tel Aviv lebte. Meine Familie fand eine Wohnung in Rechovot, und ich ging wieder in die Schule.
Meine Familie zahlte eine Wohnung in Holon an, die gerade gebaut wurde. Einige Monate später war das Haus fertig gebaut, und die ganze Familie übersiedelte. Mein Vater und mein Onkel Ernst arbeiteten schwer als Schichtarbeiter in einer Fabrik der Engländer, und meine Mutter musste nun zu Leuten flicken gehen, um Geld zu verdienen. Als sie das erste Mal zur Arbeit ging, weinte sie, und mein Papa weinte auch, denn dass seine Frau arbeiten gehen musste, bedeutete für beide den sozialen Abstieg.
Onkel Ernst war die treibende Kraft, dass wir wieder nach Österreich zurückgingen. In Österreich hatte unsere Familie noch Häuser und Äcker, und es gab den Plan, dass der Onkel und die Großmutter vorfahren und erstmal alles anschauen. Aber dann starb meine Mutter an Krebs. Meine Mutter war eine von fünf Leuten, die auf Mauritius keine Malaria hatten, und dann starb sie 1947 innerhalb von drei Wochen mit 42 Jahren an Krebs. Es war furchtbar für mich, ohne meine Mutter zu sein.
Wir anderen, meine Großmutter Gisela, mein Vater, Onkel Ernst und ich übersiedelten 1947 von Palästina nach Österreich. Mein Onkel Alexander und Großmutter Rosalia kamen 1949 auch nach Wien, nachdem sie zuerst zu Verwandten nach Chile gefahren waren.