Leo
Luster
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WIR HABEN UNS IN WIEN WOHL GEFÜHLT,
BIS DER ANTISEMITISMUS GRÖSSER WURDE
Leo Luster
Die Familie meiner Mutter kam aus Galizien, aus der Stadt Brzesko. Mein Großvater starb vor dem 1. Weltkrieg, meine Großmutter flüchtete Ende 1914 mit meiner Mutter Golda und Onkel Benjamin nach Wien. Die Eltern meines Vaters wurden beide in Jaroslaw geboren, auch in Galizien. Der Großvater starb 1899 in Wien. Das heißt, sie verließen Galizien bereits im 19. Jahrhundert. Die Großmutter starb 1923. Sie hatten sieben Kinder.
Meine Eltern haben sich durch ein Schadchen kennengelernt und 1920 in Wien im Polnischen Tempel, in der Leopoldsgasse 29, geheiratet. Mein Vater hatte von einer Textilfabrik eine Vertretung in Gänserndorf.
Meine Schwester Helli wurde 1921 und ich 1927 geboren. Helli hat sich viel um mich gekümmert, wir hatten eine gute Beziehung. Wir haben in der Schreygasse 12 im 2. Bezirk gewohnt. In unserer Wohnung gab es ein großes Zimmer, ein Kabinett, in dem meine Schwester und ich schliefen, und eine Küche. Meine Eltern waren religiös, ich ging ab meinem 4. Lebensjahr in einen Cheder, dann in einen jüdischen Kindergarten und dann in die Talmud Thora-Schule in der Malzgasse 16. Freitags zum Schabbat sind meine Eltern in den Tempel gegangen. Nach dem Gottesdienst haben wir uns oft bei Onkel Benjamin getroffen, denn er hatte eine große Wohnung.
Wir haben uns in Wien wohl gefühlt, bis der Antisemitismus größer wurde. Meine Schwester war ein biss’l zionistisch eingestellt. 1936 sind viele Bekannte aus unserem Haus nach Palästina ausgewandert. Ich glaube, meine Eltern wären auch nach Palästina ausgewandert, denn sie waren keine österreichischen Patrioten. Aber sie fühlten sich in Wien wohl.
Das ist ein Foto aus der Talmud Thora-Schule, die eine sehr fromme Schule war und die heute wieder existiert. Die nächsten vier Jahre war ich in der Vereinsgasse in der Hauptschule, dann in der Sperlgasse auf dem Gymnasium. Antisemitismus haben wir damals schon deutlich gespürt. Wir haben auf der Straße Fußball gespielt, da haben uns die christlichen Kinder verprügelt. In die Schule sind wir nie allein gegangen, sondern immer in Gruppen, damit man uns nicht überfallen kann. Wir jüdischen Kinder sind in den christlichen Schulen von den Lehrern benachteiligt worden, wir konnten das nicht ändern.
Als ich in der Sperlgasse 1941 die 8. Klasse beendete, wurde aus der Schule ein Deportationslager gemacht. Als wir jüdischen Kinder nicht mehr in die Schule gehen durften, gingen wir in die JUAL-Schule und lernten über Zionismus. Bis zur Deportation ging ich in diese Schule.
Am 10. November 1938, nach der Pogromnacht, wurde mein Vater eingesperrt.
Als mein Vater freikam, war er ganz zerschlagen. Die hatten ihm gesagt, er darf mit Niemandem darüber reden, was er erlebt hat. Man hatte die Leute im Gefängnis gequält und geschlagen
Mein Vater hat vergeblich versucht, mich rauszubringen aus Österreich. Aber er hatte 1940 durch die Kultusgemeinde die Möglichkeit, meine Schwester in einem der illegalen Transporte nach Palästina unterzubringen.
Wir sind am 24. September 1942 aus dem Sammellager in der Sperlgasse 2a auf Lastautos, zu denen wir unter den Beschimpfungen der Leute hingeführt wurden, zum Aspang-Bahnhof gebracht worden. Wir wurden mit Tomaten beworfen, und die Wiener riefen: Raus mit euch Juden! Ich war traurig über den Hass der Leute.
Dadurch, dass mein Vater in der Kultusgemeinde arbeitete, wurden wir nicht nach Polen deportiert, sondern nach Theresienstadt. Wir sind mit dem Zug zwei Tage gefahren, mit über tausend Menschen.
Ich war bis September 1944 im Ghetto Theresienstadt. Unsere ganze Gruppe, die zusammengewohnt hatte, war dann in demselben Transport nach Auschwitz. Mein Vater war auch dabei. Was mit meiner Mutter war, habe ich nicht gewusst. Wir fuhren zwei Tage und eine Nacht. Plötzlich hörten wir Schreie. Der Zug blieb stehen. Die Waggontüren wurden aufgerissen, Häftlinge schrien: „Raus, raus, raus!“ Ringsherum waren Stacheldraht und Schilder, auf denen stand: Hochspannung! Wir mussten uns auf einer Rampe aufstellen, tausend Menschen in Fünferreihen. Man musste an fünf SS-Männern mit Hunden vorbeigehen, und jeder wurde was gefragt. Der SS-Mann zeigte auf die eine oder auf die andere Seite. Die älteren Leute gingen auf die linke Seite, die jüngeren Leute auf die rechte Seite. Als ich dran war, hat mich ein SS-Mann gefragt, was für einen Beruf ich habe. Elektriker, habe ich gesagt. Wir haben nicht verstanden, was da passiert. Ich habe nicht gewusst, wo mein Vater ist. Stunden später habe ich das Krematorium und das Feuer gesehen. Wir haben andere Häftlinge gefragt, wohin man die Leute gebracht hat, die von der Rampe weggeführt wurden. Da hat einer zu mir gesagt: siehst du dort den Schornstein und den Rauch?
Im KZ Birkenau wurden uns Schuhe, Gürtel und alle Kleider weggenommen. Als ein SS-Mann Schlosser suchte, haben meine Freunde und ich uns gemeldet. Wir bekamen eine Nummer in den Arm tätowiert und Decken, und man hat uns nach Gleiwitz in eine Eisenbahnwaggonfabrik gebracht. Die Waggons waren beschädigt, und wir mussten sie reparieren. Dort haben wir Zeitungsausschnitte gefunden und lasen, dass die Russen vor Warschau standen. Und auf einmal bekamen wir den Befehl, wir gehen nicht zur Arbeit. Jeder bekam ein halbes Brot, eine Konserve mit Blutwurst, ein Stückchen Margarine und Marmelade. Wir mussten losmarschieren. Das war ein Todesmarsch. Wir gingen den ganzen Tag, viele Kilometer. Unterwegs konnten viele nicht mehr. Wer zurückgeblieben ist, wurde erschossen. Essen haben wir nicht bekommen. Nach drei Tagen kamen wir nach Blechhammer in ein Außenlager des KZ Auschwitz. Wir wurden in eine Baracke gebracht, und in der Früh hat es geheißen: zum Appellplatz. Wir haben uns in der Baracke versteckt, weil die Leute, die nicht gehen konnten, erschossen wurden. Als die SS-Männer merkten, dass sich viele versteckten, haben sie die Baracken angezündet. Wer rausgelaufen ist, wurde wie die Hasen abgeschossen. Unsere Baracke begann auch zu brennen, aber wir hatten literweise Sodawasser in der Baracke, das haben wir aufs Feuer gegossen, so haben wir überlebt.
Wir hatten nichts zu essen, aber erst am dritten Tag haben wir uns hinaus getraut. Wir gingen durch den Wald. Plötzlich hörten wir Motorengeräusch. Das waren Russen! Wir stellten uns mit erhobenen Händen auf die Straße. Ein Soldat stieg aus dem Auto. Er trug eine Pelzmütze mit einem Sowjetstern. Ich habe gesehen, dass auch er Angst hatte, da habe ich gesagt: „Jid, ja. Jid, Jid (Jude, ja, Jude, Jude)“. Er sagte: „Ja tosche Jid (ich bin auch Jude)“.
Wir haben ihm gesagt, dass da ein Lager ist. Seine Kompanie hat dann das Lager übernommen.
Am 8. Mai war der Krieg zu Ende. Die Russen kamen und sagten: „Geht, wohin ihr wollt. Ihr seid frei!“ Durch Zufall erfuhren wir, dass es in Theresienstadt noch Menschen gibt. Ich traf dort einen Freund meines Vaters, der sagte zu mir: „Warst Du schon bei deiner Mutter?“ Ich habe sie auf einem Dachboden gefunden. Kann man sich das vorstellen? Die erste Frage, die sie gefragt hat: „Wo ist der Papa?“ Ich konnte nichts sagen, und da hat sie nur gesagt: „Gott hat mir beschert, dass du am Leben geblieben bist.“
Wir bekamen die Möglichkeit, nach Bayern auszureisen. Wir mussten in die amerikanische Zone, um nach Israel auszureisen. So sind wir in das DP-Lager nach Deggendorf gebracht worden. In Deggendorf hatten wir vier schöne Jahre. Ich habe für die Hilfsorganisation UNRRA, der United Nations Relief and Rehabilitation Administration, gearbeitet, später für das Joint Distribution Committee. Ich wohnte mit meiner Mutter zusammen in einem Zimmer in der Kaserne.
Im Mai 1948 wurde der Staat Israel ausgerufen. Ende Juni 1949 machten sich meine Mutter und ich auf den Weg nach Marseille. Von dort sind wir nach Haifa gefahren – das erste Mal, dass wir ein Schiff mit einer israelischen Flagge sahen. In der letzten Nacht haben wir getanzt: Jeder wollte Haifa sehen, wenn es auftaucht. Um fünf Uhr in der Früh haben wir die Küste gesehen. Das war für uns unfassbar! Ich wollte unbedingt zu meiner Schwester. Also bin ich mit meinem Taschengeld mit einem Sammeltaxi bis Hadera gefahren. Unsere erste Begegnung ist schwer zu beschreiben. Ich habe sie durch die Fotos, die sie uns nach dem Krieg nach Deggendorf geschickt hatte, sofort erkannt. Sie hatte Wien verlassen, da war ich ein kleiner Bub. Und ich kam zu ihr als junger Mann.
Ich begann als Zahntechniker-Gehilfe für eine Hilfsorganisation zu arbeiten. Diese Hilfsorganisation hat dann Heime für Mütter gebaut. Dort habe ich meine Frau Shoshana kennengelernt. 1955 haben wir geheiratet, eine Tochter Nava und einen Sohn Moshe bekommen. Ich habe dann noch für verschiedene jüdische Hilfsorganisationen gearbeitet, bis ich begann für die österreichische Botschaft in Tel Aviv als Chauffeur und Berater zu arbeiten.
Anm.: Herr Leo Luster erhielt 1984 für seine Arbeit in der österreichischen Botschaft die Silberne Medaille für Verdienste um die Republik Österreich verliehen, 2002 als Mitglied des Vorstandes in der Vereinigung Österreichischer Pensionisten in Israel und des Zentralkomitees österreichischer Juden in Israel das Goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich verliehen.
„Die Vergangenheit ist ein anderes Land“
Leo Luster wuchs im Wien der Zwischenkriegszeit auf. Doch 1938, im Alter von 11 Jahren, musste Leo und zusammen mit seiner Familie zunächst den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich und dann einige Monate später das berüchtigte Novemberpogrom miterleben. Sein Vater verlor seine Arbeit und die Familie ihre Wohnung. Im September 1942 wurde Leo aus Wien mit seinen Eltern in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Nach zwei Jahren wurden er und sein Vater in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert, seine Mutter blieb in Theresienstadt zurück. Im Jänner 1945 wurde Leo auf einen Todesmarsch geschickt, konnte jedoch überleben. Er wurde durch die sowjetische Armee befreit und konnte anschließend seine Mutter wiederfinden. 1949 wanderten sie nach Israel aus, wo Leo bis heute lebt.