TROTZ ALLEM HATTEN WIR EINE
SCHÖNE KINDHEIT
Lizzi Granierer
Mein Vater wurde 1892 in Krakau geboren. Er ist in den frühen 1920er-Jahren nach Wien gekommen und hat als Vertreter für Büroartikel gearbeitet. Er war Reisender und ist oft in die Schweiz und nach Deutschland gefahren und hat Bleistifte und solche Sachen en gros verkauft. Meine Mama Berta wurde 1904 in Wien geboren, und meine Eltern haben Mitte der 1920er-Jahre geheiratet.
Ich bin 1929 in Wien geboren und war das älteste von fünf Kindern und habe die ersten sechs Jahre meines Lebens im 20. Bezirk, in der Dammstraße verbracht.
Im 1935er-Jahr hat mein Vater gesagt, er spürt etwas kommen. Im selben Jahr sind wir alle nach Palästina ausgewandert. Da meine Mutter an ihrer Mama gehangen ist und Großmama kein Visum bekommen hatte, um nach Palästina mitzufahren und in Wien bleiben musste, hat meine Mutter sehr gelitten. Meine Mutter hat abgenommen, bis sie nur noch 40 Kilo gewogen hat. Meine Mutter hatte nach ihrer Mutter solche Sehnsucht, weil sie ja nicht wusste, was mit ihr passieren wird, da hat sie so geweint, dass mein Vater von Tel Aviv nach Jerusalem gefahren und aufs österreichische Konsulat gegangen ist. Als er zurück kam, hat er gesagt: „Berta, wir können nach Wien, und ein Retourvisum kostet nur fünf Pfund mehr.“ Woraufhin meine Mutter zu meinem Vater gesagt hat: „Schade um die fünf Pfund, weil von meiner Mama werden mich keine hundert Pferde mehr wegbringen. Wir fahren zurück nach Wien!“ Mein Vater hat aber nicht auf meine Mutter gehört und hat ein Retourvisum genommen. Das hat unser Leben gerettet.
Wir sind 1937 zurück nach Wien gefahren: Mama, Papa und vier Kinder. Gewohnt haben wir bei der Omama im 20. Bezirk.
Mein Vater war geschäftlich in Deutschland unterwegs. Und als der Hitler einmarschiert ist, wurde mein Vater in Deutschland verhaftet und war ein paar Wochen im KZ Dachau. Aber da er noch das Retourvisum gehabt hat, hat man ihn rausgelassen. Er ist von Dachau nach Triest und hat uns die Karten geschickt. Wir sind vom Bahnhof in Wien nach Triest gefahren. Meine Tanten und die Oma standen am Bahnhof. Da habe ich die Oma das letzte Mal gesehen. In Triest sind wir in einem Flüchtlingslager gewesen und dann mit dem Schiff nach Haifa gefahren. Wir haben in Haifa gewohnt – fünf Kinder in einem kleinen Container. Dann ist mein Vater nach Jerusalem gefahren und hat einen Brief geschrieben: Berta, ich habe eine Wohnung in Jerusalem gefunden. Komm mit den Kindern nach!
In Jerusalem haben wir in einer Zweizimmerwohnung gewohnt. Mein Vater hat Büroartikel verkauft, und die Mutter hat ihm geholfen. Zu manchen Firmen ist meine Mutter gegangen, weil sie dort bessere Abschlüsse gemacht hat.
Wie ich elf, zwölf Jahre alt war, ist meine Mutter mit meinem Vater nach Haifa oder nach Tel Aviv verkaufen gefahren, und ich hab vier kleine Kinder betreut und kochen müssen. Die Wohnung war nicht weit vom orthodoxen Viertel Mea Schearim. Jeden Samstag hat der Papa uns in der Früh genommen, und wir sind zu Fuß zur Klagemauer gegangen. Wir waren nicht fromm, aber Fasten zu Jom Kippur und ein koscherer Pessach waren Pflicht.
In Palästina waren zu dieser Zeit viele Unruhen zwischen den Engländern und jüdischen Organisationen wie der Haganah. Es gab sehr oft Ausgehsperre. Durch die Ausgangssperren konnte mein Vater nicht zur Arbeit gehen. Wir sind oft tagelang eingesperrt gewesen und haben nicht gewusst, was wir essen sollen. Und es ist uns dann noch schlechter gegangen als am Anfang.
Als 1948 der Staat Israel ausgerufen wurde, musste ich mich zum Militär melden. Ich habe gesagt, sie sollen mich nur als Reserve nehmen, denn ich arbeite beim Warenhaus Kolbo/Schwarz, und ich muss meiner Familie helfen. Ich komm natürlich, wenn sie mich brauchen, aber nicht jetzt. Das haben sie akzeptiert, und ich bin befreit worden. Meine Mutter wollte unbedingt nach Wien zurück. Nicht nur, dass wir zu wenig zum Leben hatten, sie wollte auch ihre Mutter und Geschwister suchen. Da habe ich gesagt: „Ihr könnt fahren, aber ich bleib da.“ Mein Vater hat gesagt: „Glaubst du, ich werd dich dalassen?“ Und zu mir hat er gesagt: „Wenn du dableibst, bleiben wir alle da. Aber wenn irgendwas passiert, bist du Schuld.“ Und so bin ich mit zurückgekommen nach Wien.
In Wien haben wir für die ersten Monate eine Wohnung ganz weit draußen in Sievering bekommen. Das war so eine Art Flüchtlingslager für Rückkehrer, und wir sind von den Amerikanern reichlich mit Essenpaketen versorgt worden. Dann sind wir in den 3. Bezirk, in die Hansalgasse gezogen und konnten uns dort umsonst mit Möbeln aus einem Fundus einrichten. Dann sind meine Geschwister nach Amerika ausgewandert. Als erstes ist meine Schwester Inge gefahren. Sie hat in Wien geheiratet und ist mit ihrem Mann nach Chicago gegangen. Danach ist mein Bruder Naftali nachgefahren. Mein Bruder ist nach Kanada ausgewandert mit 20 Dollar in der Tasche.
Sie sind zwei, drei Jahre in Kanada gewesen und dann nach Wien zurückgekommen. Und von Wien sind sie nach Amerika ausgewandert. Meine Schwester Ruthie ist zuerst nach England gegangen. Dort hat sie geheiratet und ist von dort nach New York gefahren. Der Dani ist als letzter nach Kanada gegangen. Meine Eltern wollten bei ihren Kindern sein, konnten aber nicht gleich fahren, da meine Mutter ein gesundheitliches Problem hatte und kein Visum bekommen hat. Sie sind später nachgefahren. Sie konnten kein Englisch, und sie sind dort nicht zurechtgekommen. Sie sind im jüdischen Altersheim arbeiten gegangen, haben sich aber nicht wohl gefühlt und sind nach zwei Jahren nach Wien zurückgekommen.
Meinen Mann Leo habe ich 1950 durch meine Schwester Ruth kennengelernt. Von da an waren wir zusammen, und 1951 haben wir geheiratet. Leo wurde 1927 in Wien geboren. Er hat das Ghetto Riga, das KZ Riga, das KZ Stutthof überlebt und wurde im KZ Buchenwald befreit.
Damals hat mein Mann bei einer Zeitung gearbeitet, und wir haben mit den Schwiegereltern in einer 2 1/2 Zimmerwohnung in der Müllnergasse gewohnt. Ich war erst noch im Wollgeschäft, aber 1952 wurde schon unser Sohn Herbert geboren.
Ich habe noch in verschiedenen Geschäften als Verkäuferin gearbeitet, bis 1961 unsere Tochter Dorit geboren wurde. Dann bin ich zu Hause geblieben. Wir hatten aber eine Zeit lang ein kleines Textilgeschäft in der Alserbachstrasse, wo ich auch mitgearbeitet habe. Das ist nach zwei Jahren nicht mehr so gut gegangen. Dann haben wir uns mit erspartem Geld eine Trafik gekauft, in der wir 24 Jahre, bis zu unserer Pensionierung, gearbeitet haben.