Lucia Heilman

… UND ICH HABE GEWUSST,
ICH GEHÖRE NICHT DAZU!

Lucia Heilman

Meine Großeltern Josef und Anna Treister, die Eltern meiner Mutter, haben in Ilawcze in Galizien gelebt, das zur Österreichisch – Ungarischen – Monarchie gehörte. Sie besaßen dort ein Gut, auf dem sie mit ihren drei Kindern, meiner Mutter Regina, Arnold und Julian lebten. Im Jahre 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, haben die Kosaken diesen Teil Galiziens überfallen. Wien war damals die Hauptstadt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, und so flüchteten meine Großeltern nach Wien. Meine Mutter war zu der Zeit 14 Jahre alt. In Wien ging sie in das Gymnasium in der Albertgasse. Nach der Matura begann meine Mutter mit dem Studium der Chemie. Da sie kein Geld für die Promotionsgebühren hatte, erhielt sie erst kurz vor meiner Geburt ihre Promotion.

Regina Hildebrand, Lucia Heilmans Mutter (Wien, Anfang 1930er Jahre)

Meine Mutter heiratete 1921 in Wien Leon Steinig. Auch wenn sie schon bald nicht mehr mit dem Steinig zusammenlebte, wurde die Ehe erst 1933 aufgelöst. So wurde ich 1929 als Lucia Johanna Treister in Wien geboren, ein uneheliches Kind, geboren in einer ehelichen Gemeinschaft. Meine Mutter und ich lebten mit meinem Großvater Josef Treister und Fritz Hildebrand, dem Freund meiner Mutter, der, wie mein Vater Rudolf Kraus, nicht jüdisch war, in einer Wohnung in der Pappenheimgasse 6.

Meine Mutter arbeitete im Krankenhaus Lainz. Sie hat viel gearbeitet, und wenn sie nach Hause kam, hat sie einkaufen und kochen müssen. Aber meine Mutter hatte viel Kraft. Jeden Abend kamen Freunde zu Besuch. Sie hatte ein besonderes Talent, Menschen anzuziehen. Sie war gesellig, temperamentvoll und sympathisch, so dass sie auch den Männern gefallen hat.

Meine Eltern waren nie verheiratet und lebten nie zusammen. Aber mein Vater hat uns jede Woche besucht und hat sich sehr um mich bemüht. Er hat mit mir gespielt in den paar Stunden, die er mit mir in unserer Wohnung war. Mein Vater hat sich dann bemüht, uns aus Österreich herauszuholen. Er hat sich von Siemens, wo er gearbeitet hat, in den Iran versetzen lassen, und arbeitete im Iran als Beleuchtungsingenieur. So wollte er uns die Einreise in den Iran ermöglichen. Als die Engländer und Russen in den neutralen Iran einmarschierten, wurde ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen. Somit war mein Vater dort ein feindlicher Ausländer und wurde mit anderen interniert und nach Australien gebracht. Zunächst war er im Internierungslager. Dann wurde er freigelassen und hat sich als Mathematikprofessor in Castlemaine niedergelassen.

Rudolf Kraus, Lucia Heilmans Vater (Wien, Anfang 1930er Jahre)

Lucia mit ihrer Freundin Erna (Wien, 1932)

Unter uns wohnte die Familie Dankner mit vier Kindern, mit denen habe ich mich befreundet. Erna war knapp drei Jahre älter als ich. Mit ihr habe ich oft gespielt. Mein Großvater las mir Bücher vor, er sang und spielte mit mir und ging mit mir spazieren. Und er nahm mich manchmal mit in den Tempel.

Am 12. März 1938 sind die deutschen Truppen in Österreich einmarschiert. Ich war acht Jahre alt und bin allein zum Heldenplatz gelaufen, weil es geheißen hat, dort ist eine Veranstaltung. Als ich in der Nähe des Heldenplatzes war, konnte ich nicht mehr weitergehen, so viele Menschen waren am Ring. Ich bin dort gestanden und hab gehört das Schreien, das Grölen und diese Rufe: Heil, Heil, Heil… und ich habe gewusst, ich gehöre nicht dazu. Ich bin ganz verstört nach Hause gekommen.

Kurze Zeit später kam der Schuldirektor in die Klasse und sagte, die jüdischen Kinder mussten die Klasse verlassen. Ich habe das als fürchterliche Demütigung empfunden. Eine Ausgrenzung aus mir unerfindlichen Gründen. Diese Demütigung begleitet mich bis zum heutigen Tag.

Meine Mutter hat ihren Posten in Lainz verloren, und eines Tages ist ein Ehepaar gekommen, hat unsere Wohnung angeschaut, denen hat sie gefallen. Wir mussten binnen 14 Tagen hinaus und in eine Sammelwohnung in der Berggasse 29 ziehen. Das waren schreckliche Zustände. Mein Großvater musste seine Wohnung verlasen und zu uns ziehen, und der Freund meiner Mutter musste ausziehen, denn mit einer Jüdin zusammen leben war Rassenschande. Dann wurde mein geliebter Großvater von SA Männern abgeholt und im KZ Buchenwald ermordet. Meine Mutter und ich mussten in eine Sammelwohnung, auch in der Berggasse mit vielen anderen zusammen ziehen. Alles was wir besaßen wurde uns gestohlen, denn wir konnten es nicht mitnehmen.

1941 begannen die Transporte aus den Sammelwohnungen. Alle Juden, die in Sammelwohnungen wohnten, mussten in Lastautos steigen und wurden abtransportiert; zunächst in eines der Sammellager und dann weiter in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager. Meine Freundin Erna, mit der ich sooft in der Pappenheimgasse gespielt hatte und ihre Eltern wurden zuerst nach Theresienstadt deportiert und in Auschwitz ermordet. Die Person, die meine Mutter und mich in dieser schrecklichen Zeit vor dem Tod rettete, hieß Reinhold Duschka.

Unbekannter, Lucias Vater Rudolf, Lucias Retter Duschka auf einem Berg (Österreich, 1920er Jahre)

Reinhold war der beste Freund meines Vaters.

Reinhold hat uns nach Hitlers Einmarsch weiterhin regelmäßig besucht. Natürlich hat er Angst gehabt, aber er ist trotzdem gekommen. Wie diese Transporte begannen, hat Reinhold uns angeboten, dass er meine Mutter und mich bei sich versteckt. Er wollte nicht zuschauen, dass man das Kind seines besten Freundes umbringt. Es gab in Wien wenige Menschen, die so mutig wie er waren. Reinhold hatte eine Werkstatt in der Mollardgasse 85a. In der Werkstatt hat er uns versteckt.

Wenn jemand in der Werkstatt war, mussten wir ganz ruhig sein, durften nicht husten, und der Reinhold hat sich bemüht, denjenigen so schnell wie möglich wieder hinauszukomplimentieren. Er hat uns versorgt und sich um uns gekümmert. Meine Mutter war während der ganzen Jahre nie draußen, aber ich war ein Kind. Ein Kind ist doch viel schwieriger in einer Werkstatt zu halten, weil der Bewegungsdrang ein enormer ist. In einer Werkstatt kann man Turnübungen machen, aber man kann nicht laufen. Wenn meine Mutter und der Reinhold gesehen haben, dass ich es nicht mehr aushalte, haben sie mich rausgelassen.

Ich hatte keine Angst. Angst hatte ich in der Werkstatt, wenn es geläutet hat an der Tür. Bis heute ist es mir im ersten Moment nicht angenehm, wenn es an meiner Tür läutet. Es ist eine Sache von einem kurzen Moment, aber das ist mir geblieben.

Im März 1944 begannen die Luftangriffe auf Wien. Ich habe Freude empfunden. Eines Tages im November war am Sonntag Fliegeralarm. Meine Mutter sagte: „Heute gehen wir, heute wird niemand im Luftschutzkeller sein, und wenn man uns doch fragt, werden wir uns irgendwie herausreden“. Die Werkstätte war im 4. Stock, und wir gingen die Stufen hinunter. Bis wir den Keller erreicht hatten, sind schon die Bomben gefallen. Alles war voller Staub. Nach ein paar Minuten sahen wir, dass im Werkstättenhof der 5. Stock des Hauses weg war, kein Dach mehr existierte, und aus dem 4. Stock loderten Flammen. Die Werkstatt, unsere Unterkunft, unser Versteck war verbrannt.

Dann sagte der Reinhold, es sei zwar sehr kalt, aber wir müssten nach Hütteldorf in sein Sommerhäuschen gehen. Es war eiskalt, es gab nichts zum Zudecken und zum Heizen auch nichts. Dann bot ein Kollege vom Reinhold ihm ein Geschäftslokal in der Gumpendorferstrasse an. Es gab einen großen Ofen, und es gehörte ein Kellerabteil zum Lokal. Der Reinhold hat den Ofen geheizt, damit wir uns etwas aufwärmen konnten, dann haben wir das Kellerabteil besichtigt, und in dem sind wir dann im Finstern gesessen, denn das Lokal hatte ein Auslagenfenster, und dort konnten wir uns nicht aufhalten. Für mich war die Zeit von November 1944 bis April 1945 sehr schwer. Ich wurde depressiv und war nicht mehr ansprechbar. Der finstere Keller, die Kälte, keine Tätigkeit und sehr ruhig sitzen, denn andere Leute sind ja in den Keller gekommen. Das war für mich fast unerträglich. Am 13. April hat uns Reinhold geholt. Wir sind voller Angst aus dem Versteck gekommen und haben gesehen, dass russische Soldaten durch die Gumpendorferstrasse marschiert sind. Tausende… Wahnsinn! Wie die Russen gekommen sind, und ich war endlich befreit, war das ein Gefühl, das man nicht beschreiben kann. Ich war glücklich, ich war selig, ich konnte endlich laufen, wohin ich wollte, und ich konnte mich auf jede Parkbank setzen.

Lucia Heilman im Alter von siebzehn Jahren (Wien, 1946)

Jüdische Hochzeit von Lucia und Alfred Heilman
(Wien, 1952)

Meine Mutter ist ins Rathaus und hat unsere Geburtsscheine und Staatsbürgerschaftsurkunden besorgt. Der nächste Schritt war die Arbeit. Wir brauchten ja Geld, wir besaßen ja nichts.

In der Albertgasse hat es ein Mädchengymnasium gegeben. Meine Mutter ist mit mir zur neuen Direktorin gegangen, die alte Nazidirektorin hatte die Schule verlassen müssen. Schon allein das Gefühl, dass ich in die Schule gehen kann, war unglaublich; ich bin nicht gegangen, ich bin gehupft. Ich habe alles aufgesogen wie ein Schwamm. Ich habe Tag und Nacht gelernt und mit 18 maturiert. Nach der Matura wollte ich unbedingt Medizin studieren. Ich hab in Wien inskribiert und hab die ersten Prüfungen gemacht, Physik und Chemie. Dann bekam ich die Bewilligung, nach Australien zu meinem Vater auszureisen. Nach den Erlebnissen in Österreich in den Jahren des Holocaust hatte ich das Gefühl, ich kann hier nicht bleiben. Australien bot sich an, weil mein Vater dort war. Es war ein Wiedersehen mit vielen Tränen. Das Studium musste man bezahlen, das Internat kostete viel Geld, das konnte mein Vater sich nicht leisten, aber ich wollte unbedingt Medizin studieren. Also hab ich mich nach einem Jahr entschlossen, ich gehe zurück nach Wien, um zu studieren.

Meinen Mann heiratete ich auf dem Standesamt in der Währingerstrasse. Damals gab es nur einen orthodoxen Rabbiner im 2. Bezirk, bei dem haben wir dann richtig jüdisch geheiratet. Ich war in Weiß mit einem Schleier, aber mein Schleier war dem orthodoxen Rabbiner nicht genug. Man hat mir noch einen weißen Schal überworfen, damit man wirklich nichts sieht. Alles war richtig traditionell, mit sieben Mal herumgehen, und mein Mann hat die Ketubba unterschrieben. Unsere Hochzeit war eine der ersten jüdischen Hochzeiten in Wien. Meine Tochter Viola wurde 1955 geboren. Bei meiner Promotion war Viola dabei, sie war zehn Jahre alt. Und meine Mutter war auch dabei. 1968 kam meine Tochter Monika zur Welt. Mein Mann starb 1995 im Alter von 75 Jahren. Seitdem lebe ich allein.

Im Jahre 1990 wurde der Freund meines Vaters, Reinhold Duschka, vom Staat Israel als Gerechter unter den Völkern (Ehrentitel für nichtjüdische Personen, die während des Holocaust Juden gerettet haben) anerkannt. Die Ehrung fand erst so spät statt, weil Duschka auch nach dem Krieg Angst vor dem Antisemitismus der Bevölkerung hatte, denn es war auch im Nachkriegsösterreich nicht populär, Juden geholfen zu haben. Er musste noch viele Jahre arbeiten, und er konnte sich nicht leisten, dass ihm die Kundschaft ausbleibt. Am 11. April 2013 hat auch Österreich die Heldentat des Reinhold Duschka, der vier Jahre lang sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, gewürdigt. In der Mollardgasse 85a, dem Haus, indem er die vielen Jahre mich und meine Mutter versteckt hatte, wurde eine Gedenktafel angebracht.

Lucia und ihr Lebensretter Reinhold Duschka bei seiner Auszeichnung als „Gerechter unter den Völkern“. Auf Lucias Schoß sitzt Enkelin Lilli, hinter ihr und Reinhold Duschka Tochter Monika (Wien, 1990).