Paul
Back

MEINE GROSSMUTTER WAR
DAS ZENTRUM DER FAMILIE

Paul Back

Meine Familie mütterlicherseits stammt aus Zalozce, einem kleinen Ort in Galizien, der sich damals am Rande der Habsburger Monarchie in der Nähe der Städte Kolomea und Brody befindet. In Galizien lebten nicht nur Juden und Polen, es gab auch viele Ukraine, die man damals Ruthenen nannte, es war ein richtiges Völkergemisch. Meinen Großvater, Salomon Feder, habe ich nie kennen gelernt. Aber ich weiß einiges aus Erzählungen über ihn. Er trug immer eine Kipa, hatte aber keine Schläfenlocken. Meine Großeltern besaßen ein Büchergeschäft, in dem man auch Schulbedarf und Schreibwaren kaufen konnte. Mein Großvater war Abgeordneter des Dorfes in der Kreisstadt. Der Pfarrer und der Lehrer waren oft Gäste der Großeltern, und sie spielten Karten miteinander. Meine Großmutter hat fünfzehn Kinder geboren, davon blieben zehn am Leben. Alle Kinder wurden traditionell erzogen.

Pauls Großmutter Pessie Feder im Augarten (Wien, 1920er Jahre)

Als 1914 der Krieg ausbrach, veränderte sich das Leben der Juden in dieser Region. Einmal waren die russischen Truppen im Vormarsch, ein anderes Mal das österreichisch-ungarische Heer. Meine Großeltern und ihre Kinder verließen 1916 ihre Heimat und kamen 1917 in Wien an. Es war schwer in Wien mit den vielen Kindern, und eigentlich waren sie mittellos. Die Wohnung meiner Großeltern war im 20. Bezirk, in der Perinetgasse 2. Das war die erste Unterkunft meiner Großmutter und die letzte. Allerdings lebte sie ihre letzte Zeit in Wien, vor ihrer Deportation, im 2. Bezirk, in der Hollandstrasse 12. Mein Großvater starb 1918 in Wien an der Spanischen Grippe. Meine Großmutter bemühte sich nach dem Tod des Großvaters, weiterhin einen traditionellen jüdischen Haushalt zu führen. Sie versuchte Milchiges und Fleischiges auseinanderzuhalten, obwohl das nicht einfach war, weil man getrenntes Geschirr braucht. Sie blieb nach dem Tod des Großvaters allein, obwohl sie nicht alt war. Um ihre Kinder zu ernähren, hat meine Großmutter auf der Nähmaschine Gedärme für Würste genäht. Plastik gab es ja noch nicht.

Meine Großmutter sollte in die USA emigrieren, aber das hat nicht funktioniert. Aus heutiger Sicht, wenn man die Lage richtig gesehen hätte, hätte man mehr für die Großmutter getan. Sie wurde aus der Wohnung geworfen, lebte dann in einer Sammelwohnung im 2. Bezirk. Von dort wurde sie nach Theresienstadt und dann nach Treblinka deportiert und ermordet.

Meine Mutter Miriam heiratete meinen Vater Leo Hochbaum, der Bankbeamter war, am 10. März 1926 im 18. Bezirk, in der Schopenhauergasse. Leo Hochbaum war 1903 in Bielitz, in Polen, geboren. Nach der Heirat zogen meine Eltern in eine Wohnung nach Erdberg, das ist im 3. Wiener Gemeindebezirk.

Mein Vater war ein ruhiger Mensch, war aber dem Spiel verfallen, hat sich kaum zu Hause aufgehalten und sich viel zu wenig mit seiner Familie beschäftigt. 1936 ließ meine Mutter sich scheiden, und der Kontakt brach allmählich ab. Meine Mutter hatte immer einen großen Bekanntenkreis. Auch Max Back und seine Schwestern waren gute Freunde. Wenn sie mit Max ausging, kümmerten sich seine Schwestern um mich. Langsam nahm er die Stelle meines leiblichen Vaters ein. So führte ich trotz der Scheidung meiner Eltern ein behütetes Leben.

Paul Back mit seinen Eltern Miriam und Leo Hochbaum (Wien,1932)

Paul am Gausplatz (Wien,1936)

Ich war zehn Jahre alt und wurde ins Unterbergergymnasium im 20. Bezirk eingeschult. In meiner Klasse gab es viele jüdische Schüler. Am 12. März 1938 sah ich Flugzeuge, jede Menge Flugzeuge, richtige Staffeln, die den Himmel verdunkelten. Da sah man schon die Leute in Uniformen und Jungen in HJ-Hemden herumlaufen. In die Schule kamen neue Lehrer. Darunter war ein Sudetendeutscher, ein Nazi, der hat keinen Hehl aus seiner Ideologie gemacht und gleich die neuen Landkarten aufgehängt. Aber es gab auch andere Lehrer!

Wir jüdischen Schüler sind getrennt worden von den übrigen Schülern, wir mussten in so genannte „Israelitische Klassen“. Zuerst gab es diese „Israelitischen Klassen“, „Judenschulen“. Die jüdischen Schüler wurden in ganz wenigen Schulen konzentriert. Ich war eine Zeit lang in so einer Schule. Gelernt habe ich dort nichts, denn wir dachten nur noch ans Wegfahren.

Nachdem mein Vater ausgezogen war, zog meine Mutter mit mir in die Perinetgasse, zu meiner Großmutter. Die Wohnung meiner Großmutter wurde zu einer Art familiären Nachrichtenzentrum. Man hörte, da hat einer einen Tritt bekommen, da wurde jemand angegriffen oder jemand weggebracht, aber da machte man sich wahrscheinlich auch noch Illusionen. Man wusste, dass man nicht bleiben konnte, und hörte nur noch: „Der wurde verhaftet, und der wurde geschlagen“, und man hörte das Wort „Konzentrationslager“.

Für Palästina benötigten wir ein Zertifikat, und wenn man nach Amerika wollte, nicht ein Visum, sondern ein Affidavit. Am 27. Juni 1938 vermählte sich meine Mutter mit Max Back im Rabbinat in der Seitenstettengasse. Etwas später bekamen wir – aufgrund der Arbeit von Max für die Kultusgemeinde – Zertifikate für die Einreise nach Palästina. Im März 1939 konnten wir dann weg. Die letzte Zeit in Wien war sehr bedrohlich. Es wurden vielen Juden Sachen weggenommen, uns nicht, denn wir hatten nichts mehr.

Paul mit seiner Mutter Miriam (Wien,1934)

Die Familie aus Wien, obere Reihe: Paul, Max Back, Cousin Fritz Seliger, Cousin Schlomo Tocker, Onkel Leser Tocker, untere Reihe: Pauls Mutter Miriam mit Bruder Yoram, Tante Klara mit Tochter Ofira, Tante Regina und Cousin Chaim Tocker (Haifa, 1940)

In Haifa angekommen, fuhren wir auf Lastwagen in ein Neueinwandererlager, in ein Machane Olim. Da meine Eltern nicht wussten, wie es weitergehen soll, wurde ich für ein paar Monate in einen Moschaw, das ist eine Mischung aus normalem Dorf und Kibbutz, bei Bauern untergebracht. Viele bekamen Arbeit beim britischen Militär, auch ich habe später für das Militär gearbeitet. Mein Vater hatte bei einer Einrichtung der Britischen Navy als Schneider Arbeit bekommen, denn er war gelernter Schneider. Wir zogen in eine andere Wohnung in den Vorort von Haifa, der Neveh Sha’anan hieß. Ich ging in eine Grundschule bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr, ich musste ja erstmal die Sprache lernen.

In der Britischen Armee habe ich dann als Elektriker in den Kfz-Werkstätten gearbeitet. Das wurde später auch mein Beruf.

Ich kann mich nicht erinnern, dass wir darüber gesprochen hätten, nach Österreich zurück zu gehen. Man sprach vielleicht darüber, wie das Leben in Wien war, dass man in den Prater gegangen ist oder mit wem man zusammengekommen war. Das waren Anekdoten.

Es gab eigentlich schon einen Staat im Staat mit jüdischen Institutionen, man nannte es „Medina baderech“, das bedeutet „ein Staat im Werden“. Aber man wollte einen vollständig selbständigen jüdischen Staat. Als der Staat Israel gegründet wurde, befand ich mich bereits in der israelischen Geisterarmee, weil wir schon eingezogen und organisiert waren, noch bevor es den Staat gab und noch bevor es die Armee gab. 1948 waren wir schon mitten im Krieg. Die arabische Bevölkerung war nicht entzückt, aber sie hatte große Schwierigkeiten, sich zu organisieren. Nach dem Militärdienst habe ich in einer Buchhandlung in Haifa zu arbeiten begonnen. Diese verkaufte auch sowjetische Literatur, ein Gebiet, das mich schon immer interessiert hatte.

Zwischen 1963 bis 1966 hielt ich mich eineinhalb Jahre in der DDR auf und lernte meine Frau in Berlin kennen. Ich war damals von der israelischen Kommunistischen Partei zu einem Lehrgang geschickt worden. Meine Frau Jutta und ich heirateten in Ostberlin, dann mussten wir ein Jahr warten, bis sie zu mir nach Israel durfte. Jutta kam 1967 nach Israel, als der „Sechstagekrieg“ gerade zu Ende war. Sie lernte die Verwandten kennen, integrierte sich, lernte die Sprache.

Der Jom Kippur-Krieg 1973 überraschte das ganze Land. Aufgewühlt durch den Ausbruch des Krieges ausgerechnet in der friedlichen Feiertagsatmosphäre sagte ich meiner Frau: „Ich möchte, dass dies mein letzter Krieg in Israel ist.“ 1975 ergab sich die Möglichkeit Israel zu verlassen, weil ich in einer Buchhandlung in Wien eine Arbeit bekam. Es fiel uns nicht leicht, Israel zu verlassen. Mein Sohn Robert wurde 1977 in Wien geboren, und 1980 erhielt ich die österreichische Staatsbürgerschaft.. Ich habe nie bereut, nach Wien gegangen zu sein. Meine Frau und ich besaßen noch lange unsere Wohnung in Haifa, wir fuhren einmal im Jahr nach Israel. Trotzdem ich die Entwicklung des Landes kritisch sehe, bleibt Israel für immer meine Heimat.

DIE VERLORENEN

In diesem Film erinnern sich einige unserer älteren jüdischen Interviewpartner aus Wien an ihre Familienmitglieder, die im Holocaust ums Leben kamen.

So erzählt uns Paul Back von seinem Onkel, der zusammen mit seiner Frau auf dem Weg nach Palästina war, dann aber tragisches Opfer des „Kladovo-Transports“ wurde.

Edith Landesmann teilt mit uns den Brief ihres Cousins Wilhelm Stiassny, den er vor seinem Tod in Auschwitz-Birkenau schrieb.