WIE SIE MICH SAH,
LIESS FRITZI DIE FLASCHE FALLEN

Max Uri

Max Uris Familie väterlicherseits. Von links stehen Alexander Uri, der in Israel streng orthodox wurde, Mina Uri, Rosa mit Ehemann, Frieda Zwick, Jakob Uri, Herman Uri, Isak Uri. Sitzend: David Uri, Osias Uri, der Vater von
Max, Großmutter Regina, Großvater Lazar, Moses Zwick, Helene Uri, die Ehefrau von Herman Uri. Die Kinder: Max Schwestern Edith und Cilli, Paul Zwick und Fanny Zwick.

Mein Großvater väterlicherseits hieß Lazar Uri. Er wurde 1865 in Bercza, in Galizien, geboren und war Kaufmann. Im Jahre 1882 heiratete er meine damals 15-jährige Großmutter Regina, Rifka genannt, die 1869 auch in Galizien geboren wurde. Der Großvater und die Großmutter kamen aus streng orthodoxen Familien. Meine Tante Frieda wurde 1886 geboren und vier Jahre später, 1890, wurde mein Vater Osias geboren.

Mein Großvater erkannte, dass er in Galizien nicht so erfolgreich sein konnte, und so übersiedelte die Familie 1893 nach Wien. Damit ihre Heirat legalisiert wurde, ließen sich meine Großeltern am 7. Oktober 1896 im Wiener Stadttempel in der Seitenstettengasse ein zweites Mal trauen. Der Großvater war ein großer, gutaussehender, frommer, streng orthodoxer Mann mit einem Bart und Schläfenlocken, die er hinter den Ohren trug. Die Großmutter führte einen koscheren Haushalt, trug einen Sheitl, und unter dem Sheitl waren ihre Haare ganz kurzgeschnitten.

Ab 1894 besaß der Großvater in der Judengasse, Ecke Hoher Markt, eine Kleidererzeugungsfabrik mit dem Namen „Lazar Uri“. Durch die Armee bekam er große Aufträge und wurde k. u. k. Hoflieferant für Uniformen. Wenn er sich einen neuen Auftrag aus dem Kriegsministerium holte, nahm er seine Kopfbedeckung, die er als frommer Jude trug, natürlich nicht ab. Sein Erscheinungsbild wurde respektiert, und nie verlangte ein Beamter von ihm eine Unterschrift. Der Handschlag meines Großvaters genügte, so geachtet war er. Nach einiger Zeit eröffnete er auch ein Herrenbekleidungsgeschäft, fuhr auch regelmäßig aufs Land und erhielt Aufträge von den Bauern. 1910 hatte mein Großvater die Firma „Lazar Uri“ seinen Söhnen Hermann, Isak und Jakob übergeben und sie wurde umbenannt in „Brüder Uri“.

Damals bekam ein Ehemann zur Hochzeit die Mitgift seiner Frau, und als Tante Frieda heiratete, verschwand der Ehemann mitsamt der Mitgift in der Hochzeitsnacht. Diese Schande für Tante Frieda und die Familie muss man sich vorstellen! Wahrscheinlich hat ganz Wien gelacht, der Name Uri war ja in Wien bekannt. Also musste schnell ein neuer Ehemann gefunden werden, und das war der Moses Zwick. Moses Zwick, ein gutaussehender Snob, stellte eine Bedingung: er heiratet Tante Frieda nur, wenn man ihn als Kompagnon ins Geschäft nimmt. So wurde Moses Zwick Kompagnon meines Vaters, der die ersten Jahre auch in der Firma des Großvaters gearbeitet hatte, zu dieser Zeit aber bereits selbstständig war. Für das Geschäft taugte der Moses Zwick nicht; er kümmerte sich nur um sich und wenn er einmal im Geschäft war, stritt er mit den Kunden, machte blöde Witze und vertrug sich nicht mit den Angestellten.

In diesem Haus in der Taborstraße / Ecke Obere Donaustraße befand sich das Herrenkonfektionsgeschäft „Uri und Zwick“.

Max mit seinen Zwillingsschwestern Edith und Cilli (Wien, 1925)

Meine Schwestern Edith und Cäcilie, Cilli genannt, sind Zwillinge und wurden am 19. Oktober 1916 geboren. Zu dieser Zeit arbeitete mein Vater schon nicht mehr in der Firma des Großvaters. Ich glaube, mein Vater war kurze Zeit beim k. u. k. Militär im 1. Weltkrieg. Als er zurückkam, machte er sich selbstständig, weil er immer selbständig sein wollte. Er hatte natürlich nicht viel Geld, aber alle Leute aus der Branche, die ihn kannten, sagten: „Herr Uri, wenn Sie etwas brauchen, wir geben Ihnen, was sie wollen. Wir wissen, Sie werden bezahlen.“

Ich wurde in Wien am 28. Februar 1921 geboren. Meine Eltern wohnten zu dieser Zeit in der Salvatorgasse 10. Die Großeltern wohnten auf der ersten Stiege und wir wohnten auf der dritten Stiege. Alle vier Kinder, meine Zwillingsschwestern, ich und mein Bruder Ludwig, der am 7. November 1926 geboren wurde, wurden in dieser Wohnung geboren, da meine Mutter zur Entbindung ihrer Kinder in kein Spital gehen wollte.

Später zogen wir in die Biberstrasse Nr. 14. Diese Wohnung war eine Fünfzimmerwohnung mit Nebenräumen, und wir hatten eine Hausangestellte und eine Köchin. Beide wohnten bei uns. Jeden Tag ging die Köchin mit uns Kindern im Stadtpark spazieren, denn dort gab es einen kleinen und einen großen Spielplatz.

Meine Schwestern und ich stritten oft miteinander. In der Biberstrasse waren Türen mit Milchglasscheiben und als ich einmal einer meiner Schwestern hinterherlief, ging dabei eine Scheibe kaputt und ich verletzte mich am Arm, der sofort stark blutete. Ich lief zur Rettung, die sich neben der Urania befand. Dort zogen sie mir die Glassplitter aus dem Arm und machten mir einen riesengroßen Verband. Noch heute habe ich eine Narbe. Meine Mutter war immer ganz hysterisch, wenn man etwas kaputt machte und als ich nach Hause kam, schrie mein Bruder: „Gib acht, die Mama steht mit dem Pracker hinter der Tür!“ Ich ging so hinein, dass meine Mutter zuerst meinen Arm sehen konnte, und sie rief voller Angst um mich: „Was ist passiert, was ist passiert?“
Mit fünf Jahren lernte ich bei einem Privatlehrer das Aleph, Beth. Ab der ersten Klasse Volksschule hatte ich in der Schule einmal in der Woche Religionsunterricht. Mit der Religionslehrerin trafen wir uns jeden Samstag am Rudolfsplatz und gingen dann gemeinsam zum Tempel in der Seitenstettengasse zum Jugendgottesdienst.

Nach der vierten Gymnasialklasse ging ich auf die Handelsakademie am Karlsplatz, weil ich einmal das Geschäft übernehmen sollte. Auf der Handelsakademie war eine große Klasse mit fast sechzig Schülern. Davon waren vielleicht acht Schüler jüdisch, alle anderen waren schon illegale Nazis. Trotzdem verstand ich mich mit ihnen gut.

An den Einmarsch der Deutschen nach Österreich, im März 1938, kann ich mich noch gut erinnern. Wir wohnten ja in einem guten Viertel, und am Abend hörten wir im Radio, wie Bundeskanzler Schuschnigg abdankte. Wir löschten das Licht in der Wohnung. Nicht weit von unserer Wohnung entfernt, am Karl-Lueger-Platz, wütete der Pöbel gegen die Juden. Kurz darauf musste ich die Berufsschule verlassen; als Jude durfte ich nicht weiter lernen. Meine Klassenkameraden fragten mich: „Maxl, was wirst du jetzt machen?“ Ich sagte: „Ich glaube, ich werde nach Palästina fahren.“ Da sagten sie: „Maxl, fahr nicht weg, du bist a klasser Jud.“ Und ich sagte: „Für euch bin ich a klasser Jud, für andere bin ich a Saujud!“

Am 10. November 1938 wurde ich verhaftet und im 9. Bezirk in der Pramergasse, in einer Reitschule mit ungefähr 1 000 Juden, die teilweise in Schlafanzügen oder Unterwäsche aus ihren Wohnungen geholt wurden, festgehalten. Gegen drei Uhr nachts durften die unter Achtzehnjährigen und über Sechzigjährigen nach Hause gehen. Draußen hatte sich der Pöbel versammelt und wartete auf uns. Ein hoher Polizeioffizier war bereit, uns zu schützen, aber nur so lange, bis er bis 10 gezählt hatte. Ich rannte los, was mir als Sportler zum Glück leichtfiel.

Wir bemühten uns, aus Wien herauszukommen. Nach der Pogromnacht wurden den Juden Steuern auferlegt, zum Beispiel die Reichsfluchtsteuer und die Judenvermögensabgabe. Wir hatten dadurch Steuerschulden, und unser Geschäft war uns auch weggenommen worden. Da man für einen Pass steuerschuldenfrei sein musste, sagte der Beamte auf der Gestapo zu meiner Mutter: „Ihren Kindern gebe ich Pässe, aber Sie bleiben als Pfand hier.“ Meine Mutter wäre gerne nach Amerika geflüchtet, aber ich war Zionist, und es gelang, für mich die Einreise nach Palästina zu bekommen. Meine Mutter hatte noch das Geld, um für mich das Studium auf der landwirtschaftlichen Hochschule „Mikve Israel“ bei Tel Aviv zu bezahlen.

Max auf der landwirtschaftlichen Hochschule „Mikve Israel“ (Holon. 1940)

Hochzeitsfoto von Frieda und Max Uri (Tel Aviv, 1941)

Meine spätere Frau Fritzi und ich lernten uns schon als Kinder kennen. Wir verbrachten gemeinsam den Sommer im jüdischen Kinderheim in Breitenstein am Semmering. Im darauffolgenden Sommer war meine Mutter mit meinem Bruder und mir in Abbazia auf Sommerfrische. Dort traf ich Fritzi mit ihrer Mutter im koscheren Hotel und seit dieser Zeit gingen wir miteinander aus.

Am ersten Tag in „Mikve Israel“ gab uns der Direktor einen Tag frei, damit wir unsere in Palästina lebenden Verwandten besuchen können. Ich wollte meinen Onkel David, der in Tel Aviv lebte, besuchen. Und wie ich so auf der Straße geh, sehe ich auf einmal die Fritzi, meine Freundin aus Wien. Ich weiß noch ganz genau, sie hatte eine Flasche in der Hand und wie sie mich sah, ließ Fritzi die Flasche

Im Dezember 1941 heirateten meine Frau und ich in Tel Aviv. Der Tag meiner Hochzeit war für mich nicht nur glücklich, ich war auch sehr traurig, denn ich hatte nur den Onkel David in Tel Aviv. Mein Onkel Alexander lebte in Jerusalem, aber er hatte nie Geld und hätte den Autobus von Jerusalem nach Tel Aviv bezahlen müssen, um an meiner Hochzeit teilnehmen zu können, und das wollte ich ihm nicht zumuten. Ich dachte, eine Einladung muss ich ihm schicken, aber ich werde sie so schicken, dass er die Einladung zu spät bekommt, und das Geld für den Autobus nicht ausgeben muss. Also brachte ich die Einladung in der Früh des Hochzeitstages aufs Postamt. Ausgerechnet an dem Tag war die Post besonders schnell, so dass er zu Mittag meine Einladung bekam. Er setzte sich sofort in den Bus und fuhr nach Tel Aviv.

Während der Hochzeitsfeier mit Onkel Alexander (Tel Aviv, 1941)

Max Uri in Palästina als Mitglied der englischen Armee (Haifa, 1940er Jahre)

Während der Anfangszeit in „Mikve Israel“ meldete ich mich zur Haganah. Bei der Haganah wurde ich ausgebildet, und nach zweieinhalb Jahren, kurz vor dem Abschluss meiner Landwirtschaftsschule, kam der Befehl, wir müssten uns zum Militär melden, weil die Deutschen in Alexandria waren und die Engländer wussten, dass wir von der Haganah hervorragend ausgebildet waren. Ab 8. Mai 1941 war ich Soldat der englischen Armee in Palästina. Ich kam zur Artillerie, zu den Kanonieren.

Kurz vor der Geburt meines Sohnes Ralph, im Januar 1941, wurde ich durch einen Bedienungsfehler einer Kanone in der Nahe von Akko schwer verwundet. Danach wurde ich zu meiner alten Einheit nach Zypern geschickt. Zu dieser Zeit entstand die jüdische Brigade innerhalb der englischen Armee. Die jüdische Brigade bestand aus sieben – bis achttausend Leuten, das waren Infanterie, Artillerie und so weiter. Mit der jüdischen Brigade kam ich 1944 als Kanonier nach Italien. In Italien kämpften wir an der Front, und dann war der Krieg zu Ende. Wir wurden als Besatzungstruppen durch Deutschland nach Belgien und nach Holland geschickt.

Nach langem Suchen bekam ich eine Arbeit als Gärtner. Auf Grund dieses Arbeitsproblems – sonst wären wir wahrscheinlich in Palästina geblieben – beschlossen wir, nach Amerika zu emigrieren. Nach dem Einmarsch der Deutschen hatte meine Mutter bei der amerikanischen Botschaft versucht, eine Einreise nach Amerika für uns zu bekommen. Uns wurde erklärt, dass die Quotennummer, die wir damals bekamen, nicht mehr gültig sei und wir uns neu anmelden müssten und dass die Bewilligung ein bis zwei Jahre dauern könne, weil zuerst die „Displaced Persons“ eine Bewilligung bekämen. So beschlossen wir, erst einmal nach Österreich zurückzukehren. Wir wohnten in einer Fünfzimmerwohnung und holten meine Schwiegereltern zu uns. Die Firma „Uri & Zwick“ war ausgeraubt und heruntergewirtschaftet. Mein Schwiegervater eröffnete nach kurzer Zeit wieder sein Pelzgeschäft. Ich arbeitete gemeinsam mit ihm, aber als wir die Mitteilung bekamen, dass unserer Einreise nach Amerika nichts im Wege stehe, emigrierten wir mit unseren drei Kindern – im Dezember 1949 wurden die Zwillinge Eva und Robert geboren – 1952 nach Amerika.

Nach einer Woche New York hatten wir das Geld und flogen nach Los Angeles. Ich steckte mein Geld in die Hälfte in eine Firma, aber mein angeblicher Kompagnon war ein Betrüger, und ich verlor fast alles. Zum Glück bot mir eine Firma einen Job an. Nach elf Jahren in Los Angeles, im Jahre 1963, hatten wir uns in Amerika eingerichtet, und es ging uns gut. Wir besaßen ein schönes Haus mit Swimmingpool, unsere Kinder besuchten die Schule, wir gingen regelmäßig in die Synagoge und feierten alle jüdischen Feiertage. Da bat mich mein Schwiegervater, nach Wien zurückzukommen, da er schon alt und krank wäre. Also packten wir unsere Sachen und kamen nach Wien. Da ich vor dem Holocaust in Wien keine schlechten Erfahrungen und wenig Antisemitismus erlebt hatte, ging ich ohne Vorbehalte zurück, und ich habe es nicht bereut.

Max Uri mit der Torahrolle, die zum 60. Hochzeitstag für ihn und seine Frau Frieda geschrieben wurde (Wien, 2001)

Max Uri — Wie ich Frieda wiederfand

Max Uri wuchs in Wien auf und erzählt, wie er sich in Frieda Haber aus Klagenfurt verliebte. Max und Frieda lernten sich in einem jüdischen Sommerlager kennen und trafen sich im darauffolgenden Sommer zufällig an der Adria wieder.