Kitty
Suschny
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MEINE MUTTER HAT UNSER OBST AUF
EINEM BOOT AUF DER DONAU GEKAUFT.
Kitty Suschny
Meine Familie mütterlicherseits kam aus dem heutigen Tschechien, aus Bisenz. Das waren richtige Bauern. Mein Vater war im 1. Weltkrieg Offizier, und meine Mutter war Rot-Kreuz- Schwester. Ich nehme an, dadurch werden sich meine Eltern kennen gelernt haben. Mein Vater war 17 Jahre älter als meine Mutter. Sie haben dann am 9. September 1919 geheiratet. Wir haben im 2. Bezirk in Wien, am Gaußplatz 3, gewohnt.
Die Familie meines Vaters kam aus Lemberg, seine Eltern waren aber 1871 nach Wien gezogen. Mein Vater wurde 1876 in Wien geboren. Er hat Medizin studiert, 1901 hat er sein Doktorat gemacht und zuerst im Spital gearbeitet. Er war Praktischer Arzt, Frauen – und Kinderarzt, alles zusammen. Mein Vater hat viel gearbeitet. Auch Hausgeburten hat er gemacht. Er starb 1931 mit 55 Jahren an einem Herzinfarkt. Meine Mutter war damals 37 Jahre alt.
Mein Bruder wurde 1920, ich wurde 1926 geboren. Wir hießen Harry und Kitty, als hätte meine Mutter eine Ahnung gehabt, dass wir einmal nach England emigrieren müssten. Sehr religiös waren wir nicht, aber zu den hohen Feiertagen – Rosch Haschanah und Jom Kippur – blieb man zu Hause. Da sind wir auch nicht in die Schule gegangen. Die Kinder in der Schule haben dadurch auch gewusst, wer Jude war.
Eine Woche lang war die Schule nach dem Einmarsch Hitlers gesperrt: man hat den Führer gefeiert! Alle waren auf Aufmärschen, wir waren natürlich zu Hause. Meine Mutter hat gesagt, es sei besser, wir gehen nicht soviel auf die Straße. Nach einer Woche schulfrei sind wir in der Schule gesessen und haben geschaut, welche Lehrkräfte kommen. Der Klassenvorstand, Emma Schwiepel, ist nicht gekommen, weil sie Halbjüdin war. Die Direktorin wurde ausgewechselt, die war eine mit dem Kruckenkreuz. Wir waren nur noch wenig auf der Straße. In den Augarten sind wir nicht mehr gegangen, es ist schon gestanden: „Nur für Arier!“
Die letzten sechs Wochen vor den Sommerferien 1938 musste ich in die jüdische Schule in der Großen Sperlgasse gehen.
Ende Juni 1938 flüchtete mein Bruder in die Schweiz. Da sagte meine Mutter zu mir: „Du musst unbedingt auch weggehen, egal wie.“
Meine Freundin Ilse Maurer und ich sind dann einmal am Kai durch den Beserlpark gegangen. Da kam uns die Frau Maurer und sagte: „Geht sofort zur Kultusgemeinde, es gibt dort einen Kindertransport nach England.“ Das war nach dem 10. November 1938. Frau Maurer war vorher schon bei meiner Mutter und hatte meine Papiere geholt. Meine Mutter ist nicht gekommen, denn sie hat sehr schlecht gesehen.
Wir waren tausend Kinder, das war schon der zweite Kindertransport nach England. Meine Mutter sagte: „Fahr nicht nach England, fahr nach Holland. Da kannst du zu Fuß zurückkommen. Nimmst ein Leiterwagerl, und ein Bauer wird dich ein Stück führen, oder du gehst zu Fuß nach Hause. Übers Wasser wirst du nicht kommen können.“
Meine Mutter, Frau Maurer, Herr Maurer und Ilse kleiner Bruder Heinz haben uns in Hütteldorf halb zwölf Uhr in der Nacht verabschiedet. Das jüngste Kind war sechs Wochen alt.
Wir haben zuerst an der Küste in Dovercourt in Holzhütten mit Stockbetten gewohnt. Es war ein kalter Winter. Eine Mrs. Burns aus Southport, eine Arztfrau, gab zu verstehen, dass sie mich nimmt, weil mein Vater Arzt war. Ilse ist zu einer Mrs. Kaplan gekommen, die vier Kinder hatte. Die war sehr nett. Leider hatte meine Mrs. Burns keine Kinder und wurde so eifersüchtig auf mich, dass ich zu einer anderen Familie musste. Ich war dann bei Mrs. Royce, einer energischen Frau, ihr Mann war Möbelhändler. Sechs Wochen wohnten wir privat. Dann hat das jüdische Komitee ein Haus in Southport für uns eingerichtet. Im Haus waren wir neun Mädchen, es kamen auch Mädchen aus Deutschland dazu. Wir bekamen manchmal Jobs, aber die waren schlecht bezahlt, weil wir offiziell als Flüchtlinge nicht arbeiten durften. Im März 1940 übersiedelten wir nach Manchester, und ich sah meinen Bruder wieder. Auch er war weiter nach England geflüchtet. Im Juni 1940 begannen die Engländer, die „feindlichen Ausländer“, alle Deutschen, die sich in England aufhielten, aus Angst vor Spionen zu internieren. Mein Bruder war neun Monate interniert. Danach wurde er entlassen und konnte zum englischen Militär. Mein Bruder ist mit seiner Einheit zum Schluss in der Lüneburger Heide gelandet. Nach dem Krieg hat er in Wien an der Universität Bodenkultur studiert und wurde Agraringenieur.
Anfang 1938 war meine Mutter in der Schweiz, wir hatten dort einen Bekannten, der hat gesagt, dass die Deutschen an der Grenze massiv aufmarschieren, und er hat gesagt, in die Schweiz werden die Deutschen nicht kommen, aber nach Österreich. Meine Mutter hat geglaubt, er wäre verrückt, und sie hat geglaubt, dass man ihr nichts tun werde, weil mein Vater nie jemanden etwas getan hatte, sehr beliebt und außerdem Offizier im 1. Weltkrieg war. Das war ein tödlicher Irrtum. Meine Mutter hätte nachkommen sollen. Sie hätte in Liverpool für eine deutsche Köchin bei einer englischen Familie arbeiten können. Die englische Familie hatte sogar zum Home Office, das war das Innenministerium, Kontakt. Aber es war 1939, kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges. Es war 14 Tage zu spät! Aus unserer Wohnung musste meine Mutter ausziehen. Sie war zum Schluss im 1. Bezirk, im Lazenhof. Da waren vier Frauen in einem Zimmer. Man hatte sie dort untergebracht und dann 1942 nach Maly Trostinec deportiert und ermordet. Als der Brief mit dem Vermerk „nicht zustellbar“ zurückkam, war mir noch nicht klar, was geschehen war.
Im Oktober 1946 bin ich nach Wien zurück, mein Bruder im Dezember. Zuerst hab ich bei einer Freundin meiner Mutter gewohnt und einige Zeit für die Engländer im Büro gearbeitet. Im selben Jahr tanzte ich bei einer Feier im Stadtpark einmal mit einem Russen in Zivilkleidung. Er hat gut Deutsch gesprochen und mich gefragt, warum ich nicht so gut Deutsch kann. Ich habe gesagt, dass ich acht Jahre in England war. Er war aus Minsk, da hab ich ihn nach der Ermordung der Juden dort gefragt. Er sagte: „Ja, es hat etwas gegeben, eine Verbrennungsanlage. Da ist immer Rauch aufgestiegen“.
Später hab ich durch die Kultusgemeinde ein Zimmer bekommen. Dort habe ich auch mit meinem Mann gelebt. Die Eltern meines Mannes Dr. Otto Suschny, der 1924 in Wien auf die Welt gekommen ist, sind im Juli 1942, wie meine Mutter, nach Maly Trostinec deportiert und ermordet worden. Er ist aus Wien im November 1939 nach Palästina geflüchtet, hat dort im Kibbutz gearbeitet und war dreieinhalb Jahre beim Royal Armee Service Corps. Nach seiner Rückkehr nach Wien hat mein Mann Chemie studiert. Ich habe ihn bei einer Pessachfeier 1947 kennengelernt. Seit 1957 bis zu seiner Pensionierung arbeitete er für die International Atomic Energy Agency. Wir haben dann wirklich eine kleine Wohnung im 18. Bezirk von der Gemeinde bekommen. Endlich eigene vier Wände! Dann haben wir 1957 unsere Eva-Ruth bekommen, 1960 Dinah, und 1962 wurde unser Sohn Peter geboren. 1972 sind wir in unser Haus gezogen, in dem wir noch jetzt wohnen. Sieben Enkelkinder wurden uns geschenkt, auf die wir sehr stolz sind.
KITTY UND OTTO SUSCHNY – NUR EIN PAAR STRASSEN VONEINANDER ENTFERNT
Kitty und Otto gingen beide in Wien zur Schule. 1938 floh Otto nach Palästina, Kitty wurde per Kindertransport nach England geschickt.
Nachdem Otto als Soldat der britischen Armee in Italien das Ende des Krieges miterlebt hatte, ging er als Dolmetscher zurück nach Wien. Auch Kitty kehrte zurück, in der Hoffnung, ihre Eltern zu finden. So lernten sich Otto und Kitty kennen.