Kurt
Rosenkranz

HEUT HAT GOTT ZU MIR GESPROCHEN

Kurt Rosenkranz

Hochzeitsfoto von Mircia und Michael Rosenkranz (Wien, 1923)

Mein Vater, Michael Rosenkranz, wurde 1897 in Radom geboren. Zu Beginn des 1. Weltkriegs ging er im Alter von 17 Jahren, ganz allein, nur mit Tallit und Tefillin im Gepäck, nach Wien, denn er wollte nicht zum Militär. In Wien lernte mein Vater in der Fabrik „Eterna“ Zuschneiderei für Schuhe und wurde ein hervorragender Fachmann. Meine Mutter war 1899 in Kolomea geboren, das gehörte zu Galizien. Wann die Familie nach Wien übersiedelte, weiß ich nicht. Meine Mutter besuchte in Wien die Handelsakademie und wurde Sekretärin bei der Versicherung „Phönix“. Meine Eltern lernten sich in Wien kennen und heirateten 1923. Mein Bruder Herbert wurde 1924 geboren, ich 1927. Wir waren koscher, alle jüdischen Feiertage wurden gefeiert, und mein Vater ging jeden Schabbat in den Kaschltempel. Mein Vater eröffnete in der Kleeblattgasse, im 1. Bezirk, eine kleine Schuhfabrikation, und meine Mutter arbeitete zeitweise bei ihm. Während der Wirtschaftskrise musste mein Vater seine Schuhfabrik liquidieren. Ab 1934 lebten wir deshalb teilweise mit den Großeltern zusammen. Meine Eltern gründeten mit Freunden den russisch-polnisch jüdischen Verein in Wien, denn ihnen und vielen russischen und polnischen Juden ist die Integration in die jüdische Kultusgemeinde nicht gelungen.

Ein einziges Mal war ich mit meinen Eltern und meinem Bruder zu Besuch in Radom. Mein Großvater väterlicherseits, Dov Rosenkranz, war Tempelvorsteher und sehr geachtet. Im orthodoxen Judentum ist es höchste Pflicht, ein Leben lang zu lernen, und mein Großvater war sein Leben lang ein Lernender. Meine Großmutter war nicht nur die Mutter von sieben Kindern, sie war auch diejenige, die das Geld verdiente. Meine Großeltern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen sprachen jiddisch und besuchten nur jüdische Schulen.

Familie Rosenkranz zu Besuch bei der Familie in Polen. In der Mitte sitzt der Großvater Dov Rosenkranz, rechts neben ihm Kurts Eltern Mircia und Michael Rosenkranz, vor dem Vater Kurt und sein Bruder Herbert (Radom, 1933)

Kurt als Elfjähriger
(1938)

In meine Klasse gingen viele jüdische Kinder, weil im 20. Bezirk viele Juden wohnten. Nach zwei Jahren wurde meine gesamte Klasse in die Wasnergasse am Augarten umgeschult. Wir waren eine Bubenklasse, und einige Tage vor dem Einmarsch der Deutschen, im März 1938, spielte ich noch mit meinen nicht-jüdischen Kollegen auf der Gasse Fußball. Freitag ist Hitler einmarschiert. Wir waren bei den Großeltern, es war Schabbat. Auf einmal hörten wir im Radio: „Gott schütze Österreich“! Das waren die letzten Worte Schuschniggs, und meine Mutter weinte bitterlich, weil sie ahnte, was kommen würde. Einen Tag später begannen die Plünderungen in Wien. Am Montag kam unser Klassenvorstand in SA-Uniform in die Klasse und grüßte mit „Heil Hitler“. Sein erster Satz war: „Juden raustreten!“ Wir mussten uns auf die letzten Bankreihen setzen. Ich wurde von der Fußballauswahl eliminiert. Kein Kind wagte es, mit uns jüdischen Kindern zu sprechen. Wir waren Aussätzige.

Mein Vater ging fast nicht mehr auf die Straße, weil die Männer von der Straße weg eingesperrt und ins KZ deportiert wurden. Eines Tages sagte meine Mutter, es gäbe eine Möglichkeit, nach Riga auszuwandern. Da es nur in Berlin eine lettische Botschaft gab, mussten wir die Touristenvisa in Berlin abholen. Im Herbst 1938 packten wir das Wichtigste zusammen und verabschiedeten uns von den Großeltern. Mein Großvater starb in Wien 1942 eines natürlichen Todes. Meine Großmutter wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und im KZ Treblinka ermordet.

Wir mussten wie Touristen aussehen, damit wir an der Grenze keine Probleme bekämen. In Berlin holten wir unsere Visa von der Botschaft und fuhren nach Stettin. In Stettin wurden wir von SA-Leuten kontrolliert. Ihre letzten Worte, bevor wir aufs Schiff nach Riga gingen, waren: „Saujuden, lasst euch hier nicht mehr blicken. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was euch blühen wird.“

In Riga wurden wir von der jüdischen Kultusgemeinde empfangen und bekamen zwei Zimmer bei einer jüdischen Familie. Für mich begann eine wunderbare Zeit. Ich konnte wieder Fußball spielen und hatte Freunde. Wir konnten uns frei bewegen. Im Juni 1940 wurde Riga von den Russen besetzt. Die Schulen wurden gemischt. Mädchen und Buben gingen in eine Klasse. Ich war 13 und hatte eine Freundin. Eines Tages kam unsere Lehrerin mit einem Fragebogen für die Kinder, die Pioniere werden wollten. Meine Eltern bewilligten mir, dass ich Pionier werden durfte. Die Kinder, die nicht in die Pionierorganisation eintraten, wurden wie Aussätzige behandelt. Ich lief sogar zu Hause mit dem roten Halstuch herum. In diese Zeit fiel meine Bar Mitzwa, ich sollte in den Kreis der religionsmündigen jüdischen Jugendlichen aufgenommen werden. Ich war aber ein Kommunist! Ich aß zu Hause, war am Schabbat zu Hause, aber ich lebte in einer anderen Welt. Mein Bruder überredete mich, Bar Mitzwa zu werden. Eine Bedingung stellte ich: Ich werde Bar Mitzwa mit Tallit und dem Gebetsmantel, aber auch mit meinem roten Pionierhalstuch.

Dann kam der 22. Juni 1941 – die Deutschen hatten die Sowjetunion überfallen. Gegen vier Uhr früh klopfte es an unsere Tür. Ein Rotarmist sagte, wir sollen zusammenpacken und in fünf Minuten fertig sein. Das kam für uns vollkommen überraschend. Ich zeigte dem Rotarmisten meinen „Pionierchef“ – Ausweis. Er warf ihn auf den Boden und trat mit dem Fuß darauf. Von dem Moment an war der Kommunismus für mich gestorben! Da wir deutsche Staatsbürger waren und als eventuelle Spione galten, wurden wir verhaftet. Es war egal, dass wir Juden waren. Wir wurden im französischen Lyzeum in Riga interniert, erlebten drei Bombenangriffe der Deutschen und wurden nach einigen Tagen in Güterwaggons nach Sibirien verfrachtet. In den Waggons waren Pritschen, und es gab Brot und Wasser. In Nowosibirsk wurden wir unter strengster Bewachung in ein Internierungslager gebracht. Die Lebensbedingungen wurden schlechter, es wuchs die Aggressivität. 1942 wurden wir in Viehwaggons nach Karaganda in Kasachstan gebracht. Ich wurde Hirte und musste Schweine, Schafe und Kühe bei Wind und Wetter, bei Schnee und Eis bewachen. Da mein Vater Ruhr und Typhus hatte, lag er in der Krankenabteilung, und wir durften ihn nicht besuchen. Eines Tages glaubte ich Gott zu hören. Er sagte: „Du musst zu deinem Vater“ Ich kämpfte mich zu meinem Vater durch. Er war zum Sterben bereit. Er hatte sich aufgegeben, weil er keinen Kontakt zur Familie hatte. Ich warf mich auf ihn und schüttelte ihn: „Papa, Papa!“ Er sah mich an und mobilisierte seine wenigen Kräfte. Dadurch rettete ich ihm das Leben.

Dann kam das Jahr 1944. Immer mehr Leute starben. Eines Tages kam eine Ärztin. Diese Ärztin schrieb das ganze Lager krank. Plötzlich gab es Milch, Zucker und Eier für die Kinder und besseres Essen für alle. Da begann das Leben wieder. Nach dem Krieg hofften wir, freigelassen zu werden. Ende 1946, inmitten eines Schneesturms, wurden wir mit Lastwagen abgeholt. Wir fuhren in Viehwaggons, aber wir waren frei. Im März 1947 kamen wir in Wien am Matzleinsdorfer Frachtenbahnhof an. Wir kamen in die Meldemannstraße ins Obdachlosenasyl. Die erste Nacht im eigenen Bett! Das hatten wir viele Jahre nicht. Nach acht Monaten bekamen wir eine Wohnung mit mehreren Zimmern in der Taborstraße 24 A. Mein Vater begann wieder mit einer kleinen Schuherzeugungsfabrik.

Meine Eltern machten sich wahrscheinlich Sorgen um meine Zukunft. Das Einzige, was mich interessierte, waren Frauen und Vergnügen, auch mit wenig Geld. Mit zunehmendem Alter sah ich ein, dass ich etwas lernen muss, begann mit der Schuhmacherei und beendete die Lehre mit einem Meisterbrief. Danach arbeitete ich bei meinem Vater und machte mich später selbständig.

Bei der Hakoah war Samstag immer Tanz – dort lernte ich Erika kennen. Zwei Wochen später war der jüdische Hochschülerball, und ich traf die Erika wieder. Wir tanzten die ganze Nacht. Weil ihre Schuhe durchgetanzt waren, fuhr ich sie mit meinem Auto nach Hause. Es lag Schnee, und ich trug sie zum Haustor. Wir verliebten uns ineinander. Ich lernte ihre Eltern kennen – ich war reif für die Ehe!

Erika hatte mit ihren Eltern und Großeltern den Holocaust in Monaco, Frankreich, Belgien und der Schweiz überlebt. 1948 verließ sie Frankreich und ging nach Israel. Wegen gesundheitlicher Probleme verließ Erika Israel und kam nach Wien, wohin ihre Eltern nach dem Krieg zurückgegangen waren. Wir heirateten 1956 in Wien, im Tempel in der Seitenstettengasse. Wir waren das erste Ehepaar nach dem Krieg, deren beide Elternpaare unter der Chuppa standen. 1959 wurde unsere Tochter Lydia geboren.

Ich war viele Jahre in der Kultusgemeinde tätig und sang jeden Schabbatbeginn im Tempel im Tempelchor. Eines Tages sagte der Präsident der Kultusgemeinde: „Kurt, da kommt eine Delegation aus Deutschland, erzähl ihnen ein bisschen was im Tempel.“ Ich habe mich oft nach dem Krieg gefragt: Wieso hast du überlebt? So viele Familienmitglieder sind umgekommen. Und während ich vor dem Altar im Tempel steh und erzähle, kam es wie ein Blitz von Gott. Er sprach: Kurt, dafür hab ich dich überleben lassen. Das war der Beginn meines Instituts. Am 15. September 1989 eröffnete ich das „Jüdische Institut für Erwachsenenbildung“ am Praterstern 1. Dieses Institut ist das einzige der Welt, das in erster Linie für Nichtjuden da ist. Darauf bin ich stolz.

Hochzeit von Erika und Kurt Rosenkranz im Wiener Stadttempel in der Seitenstettengasse. Neben dem Bräutigam stehen die Väter, Alfred Roth und Michael Rosenkranz, neben der Braut die Mütter Hedwig Roth und Mircia Rosenkranz (Wien, 1956)