AM SAMSTAGNACHMITTAG GING
DIE GANZE FAMILIE INS TRÖPFERLBAD

Max Tauber

Max Taubers Familie väterlicherseits. In der Mitte der Urgroßvater Elieser Müller, links daneben die Urgroßmutter, rechts neben ihm Großmutter Anna. Ganz vorn Vater Moritz und sein Bruder Max
(Weikendorf, 1910)

Mein Urgroßvater väterlicherseits Leopold, jüdisch Elieser, Müller kam ursprünglich aus Polen. Er ist mit seiner Frau noch im 19. Jahrhundert nach Österreich gekommen. Polen war damals unter russischer Verwaltung, und in Russland war Militärpflicht ab dem 21. Lebensjahr. Der Militärdienst hat sieben Jahre gedauert. Da ist er praktisch geflüchtet mit seiner Frau, die damals 18 Jahre alt war.

Mein Vater Moritz wurde 1891, sein Bruder Max 1893 geboren. Meine Familie war eine große und religiöse Familie – streng orthodox. Auch meine Großmutter war noch sehr religiös. Mein Vater hat nach der Schulzeit in Wien eine Lehre als Schuhmacher absolviert. Im Ersten Weltkrieg war er dienstverpflichtet in einer Schuhfabrik, doch 1916 musste er zum Militär einrücken. Nachdem er einer der Wenigen war, der eine schöne Schrift hatte und die Rechtschreibung fehlerlos beherrschte, wurde er ins Büro geschoben. Als der Krieg 1918 aus war, ist mein Vater nach Wien gegangen. Dort hat er 1920 meine nichtjüdische Mutter kennen gelernt. Er arbeitete in Wien in einer Schuhfabrik in der Schottenfeldgasse. Bevor sie heirateten, ist meine Mutter zum Judentum konvertiert.

Max Tauber als Einjähriger (Wien, 1921)

Ich bin am 11. Juni 1920 in Wien geboren. Mein Vater war ein bewusster Jude, aber religiös war er nicht mehr. Als ich noch klein war, ist er zu besonderen Anlässen in den Tempel gegangen und hat mich mitgenommen. Meine Schwester Grete ist 1921 und meine Schwester Berta ist 1923 geboren. Nachdem meine Eltern geheiratet hatten, hat mein Vater sich selbständig gemacht. Schuhmacher, die als Einzelpersonen Maßschuhe hergestellt haben, sind mit dem Material gekommen und haben die Schuhoberteile von meinem Vater machen lassen. Oder sie haben ihm den Auftrag gegeben, er soll das Oberteil herstellen. Meine Mutter hat die Stepparbeiten gemacht und auch bei anderen Sachen geholfen. Das alles hat sich in unserer Wohnung abgespielt. Als meine Eltern geheiratet hatten, haben sie sich eine Einzimmer-Küche-Wohnung in der Schweglerstrasse 10 genommen. Die Toilette teilten wir mit 15 Personen am Gang, zum Waschen ist man in die öffentlichen Bäder gegangen.

In die Volksschule ging ich im 15. Bezirk in die Stättermayergasse. In anderen Klassen hat es Juden gegeben, aber ich kann mich nicht erinnern, dass einer meiner Mitschüler Jude gewesen wäre. Ich bin, wenn die Kinder katholischen Religionsunterricht hatten, immer in eine andere Klasse gegangen. Aber das hat die Buben nicht interessiert. Das letzte Jahr meiner Schulzeit wurde die Klasse aufgeteilt, und ich musste in eine Schule in der Goldschlagstraße gehen. Dort gab es schon ein paar Typen, die bei der illegalen Hitlerjugend waren. Pohl hat einer geheißen, der war etwas Höheres bei der HJ, der hat mir sogar illegale Schriften aus Deutschland zum Lesen gebracht. Das kann man sich kaum vorstellen, aber diese Gehässigkeit gegen die Juden begann erst 1938, nach dem Einmarsch der Deutschen.

Max, vordere Reihe Dritter von links, mit seiner Volksschulklasse während eines Ausflugs (Wien, 1928)

Max und seine Schwestern Grete, links, und Berta (Wien, 1931)

Im Februar 1934 wurde sofort alles, was mit den Sozialdemokraten in Verbindung stand, unter Dollfuß eliminiert. Die Sozialdemokratische Partei wurde verboten, alle Genossenschaften aufgelöst, so dass mein Vater nicht nur politisch gefährdet war, sondern auch wirtschaftlich am Ende. […] Alle Leute, die sich politisch verdächtig gemacht hatten, sind in das erste österreichische Konzentrationslager gekommen. Das war nicht anderes als ein Gefängnis, es war nicht zu vergleichen mit den deutschen Konzentrationslagern. Mein Vater ist dann bei seinem Bruder untergetaucht und hat Versucht ins Ausland zu kommen.

[…] Man hat für Palästina ein Kapitalistenzertifikat gebraucht, das heißt, man musste bei einer Bank 1000 englische Pfund deponieren, und damit hat man die Einreise bekommen. Mein Vater hatte keine 1000 Groschen in seinem Besitz, geschweige denn 1000 Pfund, aber Herr David hat ihn für die Schuhfabrik ausgesucht, und so bekam er das Zertifikat zur Einreise nach Palästina. Wie mein Vater das Geld für die Reise zusammengekratzt hat, weiß ich nicht. Im Dezember 1934 ist er nach Triest gefahren und von Triest mit dem Schiff nach Palästina. Wir haben uns von meinem Papa verabschiedet und wussten nicht, wann wir uns wiedersehen. Meine Mutter blieb zurück mit drei halbwüchsigen Kindern und ohne Einkommen. Sie hat tagelang geweint. Mein Leben in Wien war trist. Ich war 15, hatte keinen Groschen und konnte nie ins Kino gehen. Ich habe mich auf ein neues Leben in Jerusalem gefreut, meine Schwestern auch, und es war auch ein gewisses Abenteuer, was da vor uns lag. Vorstellungen hatte ich keine (144f.).

Max mit seinen Eltern und Schwestern (Jerusalem, 1941)

Einmal hat mein Vater geschrieben, er verdiene nicht schlecht in der Fabrik, und er habe einen Antrag auf einen Kredit gestellt, damit wolle er unsere Reise finanzieren. Meine Mutter hat aber die Geduld verloren und ging los, um Geld für vier Personen für die Reise nach Palästina aufzutreiben.

Wir reisten ab. Das Schiff hieß Galilei. Am 1. August 1935 sind wir in Jaffa angekommen. Auf einmal kam meine Mutter tränenüberströmt zu uns. Es hat sich herausgestellt, dass das Einreisezertifikat von einem Beamten unterschrieben war, der als korrupt bekannt war. Wir fuhren also nach Haifa. Als wir vom Schiff gingen, ist ein Beamter mit uns gegangen. Meine Mutter und meine Schwestern haben geweint, weil der Papa nicht da war und sie in einer fremden Welt ganz allein dastanden. Ich habe mir gedacht: Mein Vater ist nicht weit, was kann schon passieren! Am nächsten Tag schickte mich meine Mutter aufs Postamt, meinem Vater ein Telegramm schicken. Nach zwei Tagen waren wir endlich mit meinem Vater zusammen.

Mein Vater hat mir eine Lehrstelle in einer Maschinenschlosserei verschafft, dort sollte ich als Mechaniker und Schlosser ausgebildet werden, aber Bezahlung habe ich keine bekommen. Zwei Monate habe ich es dort ausgehalten. Mein Vater hat dann gesagt: Lern das Schuhhandwerksgewerbe und arbeite mit uns. So wurde ich Schuhmacher.

An einem Freitag kam ich von der Arbeit nach Hause, da stand vorm Haus ein offener Wagen mit einem Pferd. Es wurden Möbel herausgetragen, der angebliche Freund von meinem Vater, dem mein Vater immer das Geld für die Miete gegeben hatte, hatte die Miete nicht bezahlt. Nach sechs Wochen trieb mein Vater eine Wohnung am östlichen Stadtrand von Jerusalem auf. Es war primitiv, wie alle Häuser, die relativ neu waren. 1936 hatte mein Vater genug von der Fabrik und hat sich selbständig gemacht. Ich blieb im elterlichen Haushalt bis zu meiner Rückkehr nach Österreich. Ich habe vom ersten Tag an gesagt, wenn sich eine Gelegenheit ergibt, wieder wegzukommen, bin ich weg. Ich war viel zu sehr Europäer, um mich der Mentalität des Volkes dort anzupassen.

Bis 1946 die ersten Wahlen in Österreich stattgefunden haben und eine österreichische Regierung gebildet wurde, hat es keinen Postverkehr mit Österreich gegeben. Am 11. Jänner 1946 ist der Postverkehr eröffnet worden. Da haben wir einen Brief an den Innenminister Helmer verfasst. Monate hat sich nichts gerührt, dann ist ein Brief vom Innenministerium gekommen, in dem hieß es ungefähr so: Liebe Landsleute, es freut uns, dass ihr Kontakt mit uns aufnehmt, aber die Lage ist sehr trist, usw. Und wenn man den Brief weitergelesen hat, war eindeutig: Bleibt, wo ihr seid! Das Innenministerium hat uns nicht in Österreich gewollt. Da hat sich in der UNO eine Organisation gebildet, um allen Emigranten die Rückkehr aus den Konzentrationslagern und aus dem Exil, wohin die Menschen vor dem Holocaust geflohen waren, zu ermöglichen.

Im Frühjahr 1947 ist der erste Transport nach Österreich gegangen, der zweite Transport ein paar Monate später. Ich bin mit dem letzten Transport gefahren. In Wien habe ich mich beim Bruder meiner Mutter einquartiert. Mein Vater hat sich 1949 schweren Herzens entschlossen, auch zurück zu kommen, meine Eltern waren aber glücklich, wieder in Wien zu sein, denn meine Mutter hatte ihre Geschwister hier.

Pfingsten 1953 habe ich meine Frau Lilli in Wien kennen gelernt, und am 30. Dezember 1953 haben wir bereits geheiratet. Meine Frau Lilli flüchtete 1939 als Zwölfjährige mit einem Kindertransport nach England. Am Westbahnhof sah sie ihre Eltern das letzte Mal. Wenn ich erlebt hätte, was sie erlebt hat, wäre ich wahrscheinlich nicht zurückgekommen. Unser Sohn Willi ist 1954 geboren, unser Sohn Heinz 1957.

Wie meine Eltern 1949 zurückgekommen sind, war mein Vater schon 58 Jahre alt, und da hat er noch in Meidling die Hausschuhproduktion weiter gemacht. Er wollte, dass ich mit ihm arbeite. Wir hatten immer eine sehr enge Beziehung zueinander. Auch wenn ich nicht bei ihm gearbeitet habe, bin ich doch am Abend immer zu ihm gegangen und habe ihm zwei bis drei Stunden geholfen. Ich habe von 1964 bis 1969 in Atzgersdorf, das ist ein Teil des 23. Wiener Gemeindebezirks, bei Salamander gearbeitet. Dort war eine arisierte Fabrik, Eterna hieß sie vor dem Krieg. Nach dem Krieg wurde der Betrieb an die Erben rückgestellt, und die Erben haben die Fabrik an Salamander verkauft. Die österreichische Schuhproduktion ist systematisch von den Deutschen zu Grunde gerichtet worden. Die Deutschen haben die Betriebe aufgekauft, dann wurde eine Weile normal weiter gearbeitet, und schön langsam wurden die Betriebe liquidiert. 1969 hat der Betrieb in Atzgersdorf zugesperrt.
Ich arbeitete in verschiedenen Schuhfabrikationen, die aber alle in Konkurs gingen, und mit 50 Jahren war ich arbeitslos. Ich habe mir Zeitungsannoncen angeschaut, aber es war sehr schwer, denn ich war nicht mehr jung. Heute hätte ich überhaupt keine Chance auf eine Arbeitsstelle. Einmal habe ich einen Brief auf die Post gebracht und sah, dass die Post Leute sucht. Der Zustelldienst im Postamt 1190 [19. Wiener Gemeindebezirk] suchte Briefträger. Ich bekam die Stelle. Zehn Jahre habe ich als Briefträger gearbeitet, dann ging ich in Pension.

Lilli und Max Tauber nach ihrer Hochzeit (Wien, 1954)

LILLI TAUBER – EIN KOFFER VOLL ERINNERUNG

Lilli Tauber wuchs in Wiener Neustadt, einer österreichischen Kleinstadt bei Wien auf, wo ihre Eltern ein Herrenbekleidungsgeschäft besaßen.

Dann kam der Anschluss im März 1938, und Lilli durfte nicht mehr länger das Gymnasium besuchen. Am 10. November 1938 – im Zuge des Novemberpogroms – wurde ihr Vater wie viele andere jüdische Männer verhaftet. Als ihr Vater wieder freigelassen wurde, versuchten Lillis Eltern verzweifelt, Lilli aus Österreich herauszubekommen. So schickten sie Lilli schließlich per Kindertransport nach England.

Aus Großbritannien schrieb Lilli unzählige Briefe an ihre Eltern, und diese schrieben zurück – bis sie in ein Ghetto in Polen deportiert wurden. Nach Kriegsende kehrte Lilli zurück, um ihre Eltern in Wien zu suchen. Alles, was sie vorfand, war ein Koffer voller Briefe und Bilder, die ihre Eltern an Verwandte in Wien geschickt hatten. Sie erzählen eine schreckliche, herzzerreißende Geschichte…